Theaterfestival:Sexy und politisch

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Nicht nur diese rasende Frau bricht aus der Marschordnung des Chors aus, wie sie Marta Górnicka in ihrer "Hymne an die Liebe" arrangiert. Dergestalt bildet die Aufführung Faschismus ab und unterläuft ihn zugleich. (Foto: Magda Hueckel)

Das Festival "Spielart" hat in diesem Jahr mit seiner lebendigen Mischung fast auf ganzer Linie überzeugt. In Zeiten des erstarkenden Nationalismus schaffen viele Inszenierungen einen Gegenpol, hinterfragen Geschlechterrollen und Unterdrückung

Von Egbert Tholl und Eva-Elisabeth Fischer

Hansol Yoon besitzt eine Sturheit, die Künstlern zu eigen sein muss. Nur er steht damit seiner eigenen Arbeit im Weg. Im Einstein zeigt der Koreaner "Step memories - the return of the oppressed", beginnt mit Stucks Gemälde der Salome, fragt sich, wer der Diener sei, der der Tänzerin den abgeschlagenen Kopf Johannes des Täufers reicht und was passierte, ersetzte man diesen Diener. Wie viele Diener kämen hinter ihm? Das ist die Einleitung, und für diese lässt Yoon eine Übersetzung der Rede verteilen. Löblich, aber dieses Bild kennt man. Was folgt, kennt man nicht. Und hier werden Yoons Auskünfte spartanisch. Ein paar wenige, grafisch interessant aufbereitete Übertitel künden nicht einmal vom Nötigsten. Dabei könnte es spannend sein, wie Yoon den Koreakrieg und die von diesem verursachten, bis heute schwärenden Wunden aufarbeitet. Doch man versteht wenig, es sei denn, man könnte Koreanisch. Dabei schafft er starke Bilder: Die Toten des Krieges, gerade noch verscharrt, kehren zurück. Aber sie sollen gehen, man will sich nicht erinnern, man will das Trauma nicht.

Für die Leiter von "Spielart" ist eine Haltung wie die Yoons ein Problem. Denn einerseits wissen Tilmann Broszat und Sophie Becker genau, wo innerhalb der Aufführungen Vermittlungsarbeit Not täte. Andererseits wollen sie die Künstler nicht domestizieren. Und man kann auch nicht vor jeder Aufführung einen längeren Einführungsvortrag halten. Vielleicht muss man, anderes Beispiel, nicht genau wissen, wie etwa Neo Muyanga aus afrikanischer Musik und europäischer Kunstmusik ein grandioses Amalgam formt; aber zweieinhalb Stunden Reden über einen fernen Krieg ohne Konkretisierung sind hart.

"Spielart" in diesem Jahr ist für alle, die sehr viele Aufführungen besuchen und sich somit ein Gesamtbild zusammenbauen, eine Sensation. Einzelne Produktionen jedoch erklären sich nicht unbedingt von allein. Man lernt, dass Avantgarde in Afrika oder Asien etwas anderes bedeutet als bei uns, obwohl die Künstler von dort sehr genau zu wissen scheinen, was mitteleuropäischer Theaterdiskurs ist. Sie haben halt nur unterschiedlich viel Lust darauf. So wurde, trotz aller kurzfristigen Verständnisschwierigkeiten, die diesjährige Ausgabe von "Spielart" zu einer der an- und aufregendsten des Festivals. Irgendwann vergaß man sogar, theatralische Ereignishaftigkeit zu vermissen und gewann die kleinen, feinen Arbeiten lieb.

Den größten Applaus erhielt Silvia Calderoni mit der Gruppe Motus für ihre Transgendergeschichte "MDLSZ", eine mustergültige Performance, bei der man gar nicht mehr auseinanderklamüsern kann und will, ob Calderoni ihre eigene Geschichte oder die des Buches "Middlesex" erzählt. Es spielt keine Rolle, es geht zu Herzen, unterfüttert mit viel Pop-Pathos. Ganz, ganz großartig. Viel weniger quecksilbrig, sondern ein böser, kleiner Scherz: Eisa Jocson aus Manila, die mit luzider Delikatesse das Frauen-Püppchen-Putzi-Bild der Disney-Unterhaltungsindustrie zerlegt. Auch auf den Philippinen ist Disney eine Macht. Die diejenigen ausschließt, die nicht hell genug pigmentiert sind, um Prinzessin zu sein. Die Frage nach Pigmentierung, vulgo Hautfarbe, wölbt dann Chuma Sopoleta aus Kapstadt ungehemmt nach außen. Die Frau ist sexy, spielt mit Sex, und ihr Bühnenpartner Ahmed Tobasi weiß in "Let's talk about sex" irgendwann nicht mehr, wo er, scheuer Palästinenser, angesichts der schwarzen, barbusigen Energienudel hinschauen soll. So erzählt er eine Geschichte. Wie er ein Mädchen kennenlernte, sie will die Grenzmauer zwischen dem Westjordanland und Israel sehen, dort kommen sie sich so nah, wie man sich halt kommen will: Scheinwerfer an, israelische Grenzsoldaten johlen von der Mauer herab. Seine Idee, letztlich bejubelt von den Soldaten: "Let's fuck for Palestine!" "Spielart" ist sexy!

Und dabei bleibt "Spielart" doch meistens politisch. "Noch ist Polen nicht verloren", so lautet der erste Satz der polnischen Nationalhymne. Heuer, anlässlich des Nationalfeiertags in Gedenken an die Unabhängigkeit des dreifach geteilten Landes 1918, hörte sich der Satz zynisch an, marschierten doch Tausende Nationalisten und Rechtsradikale auf und skandierten: "Wir wollen Gott!" Aktuell richtet sich deren Weckruf gegen die Muslime. Seit je diente der strenge Katholizismus in Polen im Verein mit nationalistischen Zielen der Ausgrenzung des Fremden.

Aber das mit den Juden, das waren die anderen, die deutschen Besatzer. . . Lässt Marta Górnicka, Regisseurin und glühende Europäerin, eine ihrer Spielfiguren sagen. Górnicka hält mit Macht in perfekt choreografierten Bildern gegen Verdrängung, gegen völkische und anti-europäische Mobilmachung, indem sie einen 25-köpfigen Chor unter Kreuz und Davidstern in Marschformationen über die Bühne dirigiert. In ihrer ironisch unterwanderten "Hymne an die Liebe" rutschen zwei Frauen auf Knien, als beteten sie zur Schwarzen Madonna von Tschenstochau und sehen dabei doch aus wie gedemütigte Opfer nach einem Spießrutenlauf. Bei Górnicka birgt die Masse Mensch, inszeniert als paramilitärische Truppe oder geifernder Mob, die Subversion in den eigenen Reihen: ein Kind als Hoffnungsträger der nächsten Generation; eine wilde Dunkelhäutige und eine selig lächelnde Frau mit Down-Syndrom als leibhaftiger Widerspruch zum völkischen Bekenntnis: "Ich bin stolz, ein Pole zu sein". Solange es eine Marta Górnicka gibt, ist Polen wirklich nicht verloren. Und solange es Aufführungen wie diese gibt, die die perfekten bühnentauglichen Mittel für seine politische Botschaft findet, lebt das politische Theater fort. "Hymne an die Liebe" gehört zu den wenigen Aufführungen des diesjährigen "Spielart"-Festivals, die für sich selbst stehen und die nicht nur für den gewichtigen Gesamtkontext von Bedeutung sind.

Egal, ob in Asien, Afrika oder Europa - der Kampf gegen Ausgrenzung, Unterdrückung und Ausbeutung hat immer eine bessere Welt zum Ziel, drückt sich allerdings in der künstlerischen Überhöhung jeweils anders und dabei nicht immer nachvollziehbar aus. Dennoch: "Spielart" gewährte jede Menge aufwühlender, verbindender Momente. Auch komische und zärtliche wie das Tanzpoem "The Way You Look (at Me) tonight" der auf Krücken tanzenden Claire Cunningham und dem Amerikaner Jess Curtis, die es leichthin mit der Leichtigkeit von Fred Astaire und Ginger Rogers aufnehmen. "Spielart" endete, wie schön!, mit fröhlichem Gelächter - über Louis Vanhaverbekes irrwitzige, klingende Plattenspieler-Sperrmüllkonstruktionen im Dauerlauf.

© SZ vom 13.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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