Theater im Visier:Hier kotzt der Kritiker

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Die neue Trendsportart "Theater-Bashing" ist das Symptom eines Kulturkampfes. Doch: Es gibt keinen Grund, auf aktuelle Inszenierungen mit besonderer Inbrunst einzuschlagen. Sie zu mögen, aber auch nicht.

Christopher Schmidt

Das entlarvendste Urteil über die Auswüchse des modernen Regietheaters war vor kurzem in der Bild-Zeitung zu lesen. Dort wurde der Kritiker, dem der Draht seines Spiralblocks, wenn er denn abgestanden haben würde, eventuell die Haut hätte ritzen können, mit dem Satz zitiert, er habe nach dem Übergriff erst nach Mitternacht in den Schlaf finden können. Das ist ungewöhnlich, denn häufiger kommen Kritiker bereits sehr früh vor Mitternacht zu ihrem verdienten Schlaf, und zwar nach dem dritten Klingeln und dem Erlöschen der Saalbeleuchtung. So geschehen bei der Premiere eines der aufrüttelndsten Stücke der Theaterliteratur. Jürgen Gosch hatte Shakespeares ¸¸Macbeth" inszeniert, und den Kritikern drückte der Abend schwer auf die Augenlider. Was nicht bedeutet, dass sie nach den geschlagenen viereinhalb Stunden, die der Abend dauerte, nicht mit Schaum vor dem Mund wieder aufgewacht wären. Die Verrisse prasselten auf den Regisseur ein wie Wurfmesser.

Kritik kommt inzwischen von Pop-Autoren, die den Krawall lieber selber machen, als ihn zu beschreiben. (Foto: N/A)

Das war 1988 in Berlin, und Jürgen Gosch muss das federnde Geräusch der neben ihm einschlagenden Klingen noch sehr lange im Ohr gehabt haben, genau siebzehn Jahre lang, denn 2005 hat er noch einmal den ¸¸Macbeth" inszeniert, diesmal in Düsseldorf. Dass ausgerechnet diese Inszenierung im Mai das Berliner Theatertreffen eröffnen wird, muss ihm eine tiefe Genugtuung sein, der letzte Beweis, dass er das Trauma überwunden hat. ¸¸Schön ist schlimm, und schlimm ist schön", grunzen die Hexen gleich zu Beginn, und das ist diesmal alles andere als ein leeres Versprechen. Beim Münchner Gastspiel drückte der Hausherr Dieter Dorn das vornehmer aus. Man habe die Aufführung eingeladen, so der Hausherr ¸¸weil uns diese extreme Theaterformulierung imponiert hat." Fünfzehn Minuten später ist die ohnehin nur mit dem bruchsicheren Mobiliar einer Isolationszelle bestückte Bühne vollkommen verwüstet, rutschen die sieben nackten Schauspieler auf einer Pampe aus Blut, Urin und Kot zwischen den Trümmern herum.

Was sind das für wilde Sudelkerle, die da aus dem Zuschauerraum kommen, sich Jeans und T-Shirt vom Leib reißen und einander mit Exkrementen beschmieren? Fußball-Hooligans? Eine Männer-Selbsthilfegruppe? Entfesselte Arbeitslose? Oder alles zugleich: Gewaltorgiasten und Ursuppenkasper, arme Blutwürstchen und Skandal-Nudisten. Der Abend ist ein großer Regressionsspuk, Testosterontheater über männliche Allmachtsphantasien, das mit einem Saalbeben beginnt, um sich dann langsam zu steigern - zu einem der aufregendsten und aufwühlendsten Theaterereignisse der letzten Jahre.

Am Ende wurden die badebemäntelten Spieler vom Publikum mit stehenden Ovationen gefeiert. Wenn man jedoch den aktuellen Spiegel liest, muss es sich bei den Zuschauern, die sich ins konservative Münchner Residenztheater verirrt hatten, um totalmanipulierte Jasager gehandelt haben, Konsumzombies, gehirngewaschen von Theaterperversen und ihren feuilletonistischen Büchsenspannern. Der Autor Joachim Lottmann jedenfalls schildert dieselbe Inszenierung, die in München bejubelt wurde, mit den kolportagehaft-seifigen Worten eines Landser-Romans: Im Flakgewitter ¸¸gnadenloser Scheinwerfer" bilde sich ¸¸ein Rinnsal von Flüchtenden". Es sind ¸¸Vertriebene aus dem Theaterland", unter denen Lottmann im Elends-Treck ¸¸Alte, Gebrechliche" ausmacht - ¸¸manche weinen" -, und er stellt im Namen des Menschenrechts die Anklage: ¸¸Was geht in Kritikern vor?" Denn: ¸¸Es ist Ekeltheater von Anfang an." Und ¸¸von da aus ist es nicht mehr weit, dem letzten Kritiker das Blöckchen zu entreißen und ihn mit derben Worten wie ,Hau ab, du Arsch! Verpiss dich!" einzuschüchtern" - Worten übrigens, die außer dem Betroffenen niemand gehört hat.

Als Pop-Autor ist Lottmann mit den Formen des performativen Journalismus vertraut, der den Krawall lieber selber macht, als ihn nur zu beschreiben. Eine neuere Ausfaltung der Pop-Ironie stellt lediglich der Einsatz für restaurative Anliegen dar, der mitunter die Grenze zum Borderline-Journalismus streift und insoweit selbst eine Grenzüberschreitung wäre. Fakt und Fiktion lassen sich ja nicht nur in Lottmanns Abrechnung mit dem deutschen Theater schwer trennen, sondern auch in dem ¸¸Bericht von einem Angriff auf mich" des FAZ-Kritikers Gerhard Stadelmaier. Die Ungezwungenheit, mit der neuerdings kulturkämpferisch aufs Theater eingedroschen wird, zeigt aber, dass die Freiheiten des Regietheaters nicht ganz spurlos an der Gesellschaft vorüber gegangen sind.

Einbeziehung des Publikums? Mitmachtheater? Entgrenzung? Wenn wir schon auf die Bühne gebeten werden, scheinen sich manche frustrierte Theatergänger zu sagen, dann wollen wir da oben auch die Hauptrolle spielen. Oder besser noch gleich Regie führen. Während Ökonomen laut darüber nachdenken, ob es sich bei den Theatersubventionen nicht um eine skandalöse Umverteilung von unten nach oben handle, macht man in Bremen bereits Nägel mit Köpfen und rollt bedenkenlos sein ruhmreiches Theater auf. Dieselbe Politik, die dort sinnlos 180 Millionen Euro für gescheiterte kulturelle Prestige-Projekte verbrannte, benutzt gerade das am Bremer Theater entstandene Defizit von 4,7 Millionen, um der Bühne ihre Vorstellungen von Stadtmarketing aufzuzwingen. Und der Spiegel feiert aus Anlass der großzügigen privaten Spenden für die geplante Elbphilharmonie in Hamburg den neuen angeblich ideologiefreien Gemeinsinn als Ausdruck ¸¸neubürgerlicher Mentalität" und ruft eine Gründerzeit aus.

Hier artikuliert sich vor dem Hintergrund erschöpfter städtischer und staatlicher Etats eine kulturpolitische Parallelgesellschaft, die zu ihrer Legitimation ein paar eklatante Beispiele braucht für den Sittenverfall in den bestehenden Kultureinrichtungen. Solche Exempel sind jedoch angesichts des eher gefälligen Qualitätsmanagements, das die Theaterlandschaft regiert, gar nicht mehr so leicht zu finden.

Ekel und Menetekel

Wenn das Berliner Publikum sich über die explizite Gewalt in Botho Strauß" aktuellem Stück ¸¸Schändung" entsetzt, wie zuvor schon die Zuschauer in Paris, hat das mehr mit den falschen Erwartungen an die Regisseure Luc Bondy und Thomas Langhoff zu tun, die eher dafür bekannt sind, mit dem Ziselierstichel zu inszenieren als mit der Panzerfaust. Und man muss sich schon in die eher verschwiegenen Nebenspielstätten begeben, dorthin, wo vor den Augen einer urbanen studentischen Jugend die Experimente verscharrt werden, um von einem toten Schwan gebissen zu werden.

Dass der Autor Lottmann das Ekeltheater gefunden hat, ist nicht ganz so erstaunlich, da er ja mit dem Gefechtsauftrag ausgeschickt worden war, es zu finden. Bemerkenswert ist allerdings, dass der Tonfall der Fäkal-Alarmisten, den man nur aus der Bild-Zeitung kennt (Wie lange müssen wir die Sauereien noch ertragen? Und alles von unseren Steuergeldern!), sich zu etablieren scheint, verbunden mit dem revanchistischen Wunsch nach kompensatorischer Theaterkulinarik, nach dem Positiven. Und geradezu gespenstisch ist der Ruf nach einer disziplinarischen Wiederherstellung der Ordnung durch den starken Einzelnen. So beschreibt Lottmann den ¸¸letzten Kritiker" Gerhard Stadelmaier als einen wehrhaften Pflichtmenschen, der besonders dadurch für sich einnimmt, dass er auf dem Pausenhof nie verprügelt worden ist. ¸¸Der musste sich nie in die Bücher flüchten, vor dem hatten selbst die Lehrer Angst". Wer den Kritiker Stadelmaier kennt, weiß, dass er alles andere ist als ein zimperlicher Pädagoge. Man müsse Regisseuren nicht nur auf ¸¸die Finger schauen", sondern auch schon mal ¸¸hauen", schrieb er erst kürzlich. Seine Ad-hominem-Flüche über jene, die ihr ruinöses Werk am deutschen Theater verrichten, haben die Neigung, nicht mehr Aufführungen zu rezensieren, sondern Menschen, und zwar im Namen des Menschentheaters.

Den ¸¸echten" Menschen will auch Lottmann auf der Bühne sehen, nicht den ¸¸verrohten, entstellten, karikierten". Nichts Menschliches sei dir fremd, war mal ein Satz der Kunst, den Lottmann wohl scheißliberal fände. In Wahrheit läuft alles darauf hinaus, dass sich im Theater ¸¸immer die Falsche auszieht", die Dicke und Hässliche, nicht die Hübsche. Das nämlich hat Lottmanns Arbeitgeber, Matthias Matussek, vor allem schockiert, als er aus London nach Deutschland zurückkehrte und ins Theater ging.

© Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr.57, Donnerstag, den 09. März 2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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