Tabubrüche in der Kunst:Die Einführungsveranstaltung

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Hier wird gefistfuckt, rüde von hinten penetriert und Gin gesoffen: In der Berliner Ausstellung "Into Me / Out of Me" fließen Körpersäfte und einiges mehr. Damit bricht man heute zwar keine Tabus mehr, dafür aber Verkaufsrekorde.

Jörg Heiser

Alles was rein geht und raus kommt aus den Leibern: Hier wird es gezeigt. Auf fünf Etagen. Fressen und saufen, weinen und bluten, Notdurft, Sex, Gewalt, Krankheit, Tod. Arbeiten von 137 internationalen Künstlern, viele davon als filmische oder fotografische Dokumentation von Aktionen. Ausgewählt wurden sie von Klaus Biesenbach, der am New Yorker Museum of Modern Art die kürzlich neu geschaffene Abteilung für "Medien" leitet. Die Ausstellung "Into Me / Out of Me", zuerst diesen Sommer in dem zum MoMA gehörenden P.S.1-Museum gezeigt, liefert die leibhaftige Visitenkarte zu diesen zeitbasierten Kunstformen ab.

Janine Antoni: "Mortar and Pestle", 1999. (Foto: Foto: Luhring Augustine, NY)

Ein kurzes Schwarzweiß-Video zeigt beispielsweise, wie einer sich in den Arm schießen lässt (Chris Burden, 1971); ein anderer lässt sich die Körperhaare einzeln ausrupfen (Matthew Barney, 1988, ebenfalls auf Video). Eine zeigt ihre Speiseröhre (Mona Hatoum, 1996), eine andere ihren Muttermund (Annie Sprinkle, 2006); wieder eine andere mischt ihre eigene Kotze ins Wachs ihrer Porträtbüste (Sue Williams, 1995). Hier wird gefistfuckt (zwei Fotos von Robert Mapplethorpe, 1978) und Gin gesoffen (Gilbert & George vor der Filmkamera, 1972), dass es vor Exzessen nur so schäumt.

Rein-raus-Spiele

Ist dies also das wahre Pandämonium menschlicher Begierden und Bedürfnisse in den Bildern der Kunst, Marco Ferreris "Großes Fressen" und Pasolinis "120 Tage von Sodom" in einem? Seltsamerweise: nein. Und das liegt - erstaunlich genug - nicht zuletzt an der schieren Masse hier gezeigter Körperkunst. Schon die Anhäufung der Arbeiten in dieser Themenschau durchkreuzt nämlich das quasirevolutionäre Pathos, das die künstlerischen Rein-raus-Spiele von Anfang an kennzeichnete.

Viele der Körperkünstler waren nämlich einst, als sie noch nicht zum Museumsbestand gehörten, ausgewiesene Tabubrecher. Kurt Kren filmte etwa am 20. September 1967, wie der Wiener Aktionist Günter Brus isst und trinkt und wie er dann, so muss man es wohl sagen: pisst und kackt.

Kren zeigt die Brus'sche Darmproduktion in Großaufnahme dank Schnitt und Wiederholung öfter und länger, als es für rein dokumentarische Zwecke nötig wäre. Er gibt so zu erkennen, dass er auf Etikette buchstäblich scheißt in einer Österreichischen Republik, die weniger als ein Jahr später ihre Bigotterie und Unerbittlichkeit unter Beweis stellen sollte. Denn 1968 agierte Brus zusammen mit Otto Mühl in einem Hörsaal der Wiener Universität vor Publikum ganz ähnlich, nur dass er dazu noch onanierte und die österreichische Nationalhymne pfiff - was ihm strafrechtliche Verfolgung und sechs Monate Zuchthaus einbrachte.

Sublimierung ist laut Freud die Umwandlung des Triebs in kulturelle Leistung. Das "Sublime", das Erhabene ist das, was eine ehrfurchtgebietende Form erlangt. Die radikale Entsublimierung, die in den sechziger Jahren stattfand, richtete sich demnach gegen post- und protofaschistische Gesellschaftszustände, in denen "Sublimierung" vor allem das Einbleuen von Sekundärtugenden bedeutete. Zugleich attackierte sie aber auch eine um Seriosität und Unangreifbarkeit bemühte Kunstdoktrin, wie sie nicht zuletzt an den österreichischen Akademien gelehrt wurde.

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Die Aktionskünstlerin Carolee Schneemann zog 1975 einen langen Textstreifen aus ihrer Vagina und las vor, was darauf stand: die Schilderung ihrer Begegnung mit einem strukturalistischen Filmemacher. Sie sei ja charmant, so stand auf seinen durch die Künstlerin ans Licht gezerrten Notaten zu lesen, aber ihre Filme könne man sich wirklich nicht anschauen mit ihrer selbstbezogenen Gefühlsduselei. Er dagegen habe sich "Gefühl, Intuition, Inspiration", dieser ganzen wichtigtuerischen Künstlerallüren, entledigt, zugunsten eines klaren Prozesses mit eigener Logik.

Wir sehen nun das Dokumentationsfoto der Performance, bearbeitet mit, wie uns die Werkangabe verrät: "Rote-Beete-Saft, Urin, Kaffee". Schneemann bekleckert die Aussage also mit all dem, dessen sich eine Kerngruppe damaliger Konzeptkünstler so säuberlich entledigt zu haben glaubte.

Schneemanns Buhmann, der sich auf diese Weise gynäkologisch verarbeitet fühlen darf, muss man allerdings zugute halten, dass an seinem Misstrauen gegenüber dem Öffentlichmachen alles Intimen schon etwas dran ist. Das Problem ist die parareligiöse Unterfütterung vieler Körperkunst-Aktionen: Da gibt es exhibitionistische Märtyrer und heldenhafte Tabubrecher, Mutproben und Selbstgefährdungen zuhauf - nicht zuletzt zu beobachten im Gesamtwerk Hermann Nitschs, das im Martin-Gropius-Bau ausgestellt ist (SZ vom 30. November).

Die Frage stellt sich also immer wieder: Wer setzt in der Körperkunst eigentlich was und wie gegen wen durch? Wenn Ana Mendieta 1973 in ihrer Wohnung den Tatort einer blutigen Vergewaltigung nachstellte - was wir nun auf Schwarzweißfotos sehen - und nicht darüber aufklärte, ob es sich um eine Inszenierung handelte, so verstand sich das als unmittelbare Reaktion auf reale Vergewaltigungen.

Wenn Alex McQuilkin sich im Jahr 2000 in einem Video mit dem sprechenden Titel "Fucked" dabei zeigt, wie sie sich zu schminken versucht, während sie sich ziemlich rüde von hinten penetrieren lässt (sie stellte die Szene mit einer Freundin), spiegelt das die Medieninszenierung von halbkomatösen Model-Girls wider, die - beinahe - nichts mehr aus der coolen Pose bringt. McQuilkin borgt sich also ein Körperkunst-Stereotyp für ihre Selbstinszenierung; ihre Arbeit wurde zuerst auf einer Kunstmesse gezeigt und die neun Auflagen waren noch am Eröffnungsabend ausverkauft - schnelle Gratifikation gesichert. In der Kunst werden heute keine Tabus mehr gebrochen, allenfalls Verkaufsrekorde.

Der Körper ist, das haben wir seit den siebziger Jahren gelernt, nicht wahrer Ort authentischen Ausdrucks. Er ist aber auch nicht einfach lästiges Anhängsel privater Narzissmen. Die Wiederaufführung all jener Versuche, diese seltsame Ungreifbarkeit des Leibes künstlerisch greifbar zu machen, addiert sich in Berlin zu einem Gemenge von peinlichen und theatralischen Momenten, die sich gegenseitig relativieren.

Hier sind wir alle gleich

Aber vielleicht liegt gerade hierin auch eine Qualität der Ausstellung. Die Präsentationsform vieler Arbeiten ist, im Gegensatz zu ihren Inhalten, extrem unspektakulär. Zwar wird, wer sich in die historischen Details vertieft, die vielen Widersprüche der Werke untereinander erkennen. Doch tritt durch ihre schiere Akkumulation andererseits auch eine Art Alltäglichkeitseffekt ein, der den Körperkunst-Arbeiten ihren Heroismus und ihr umstürzlerisches Pathos austreibt, ihnen ihre aufgeheizte Bedeutungshuberei nimmt. Hier findet eben kein "Orgien-Mysterien-Theater" statt.

Auf diese Weise aber kommt man letzten Endes über das moralische Rezeptionsschema von liberalem Wohlwollen versus konservativer Empörung hinaus. Wo sonst Themen-Ausstellungen gerade damit nerven, dass sie unterschiedslos ansammeln, was sie kriegen können, wird in den Kunst-Werken auf diese Weise dem künstlerischen Heroismus die banale Würde menschlicher Gleichheit verliehen - eine zutiefst humanistische Konstante: Auch Heldinnen und Helden müssen mal.

"Into Me / Out of Me", KW Institute for Contemporary Art Berlin, bis Februar 2007, Katalog erscheint im Januar.

© SZ v. 5.12.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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