SZ-Serie: Völkerwanderung in Deutschland (3):Türken in der Tiefe des Raumes

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Wie die türkischen Einwanderer zwischen Istanbul und München pendeln und so beide Länder verbinden.

WERNER SCHIFFAUER

(SZ v. 21.08.2003) Die Geschichte der internationalen Wanderungsbewegungen wird meist aus nationalstaatlich gefärbter Perspektive beschrieben - als einseitiger Prozess, bei dem Menschen einen Nationalstaat verlassen und allmählich in einen anderen integriert werden. Seit einigen Jahren aber wird dieses Bild in Frage gestellt. Migrationsforscher weisen darauf hin, dass man es mit einer Vielzahl von Wanderungen zu tun hat, die aus unterschiedlichen Motiven und in beide Richtungen erfolgen. Die Migranten wechseln mit diesen Wanderungen weniger das Land, als dass sie ein nationenübergreifendes Beziehungsnetz spannen. Dies gilt auch für die Wanderungen zwischen der Türkei und Deutschland.

Am Beginn stand die klassische Arbeitsmigration. Junge Männer und - seltener - junge Frauen, meistens aus den ländlichen Gegenden Anatoliens, entschieden sich, für einige Zeit im Ausland zu arbeiten. Sie waren "Gastarbeiter" und wollten nichts anderes sein. Sie hatten vor, in kurzer Zeit so viel Geld wie möglich zu verdienen, um sich danach in den Städten der Türkei eine Existenz aufzubauen. Doch die Rückkehr war oft schwieriger als gedacht. Die Branchen, in denen man ohne Berufskompetenz investieren konnte, waren bald mit anderen Rückkehrern überfüllt. Die Wirtschaftslage in der Türkei verdunkelte sich stetig und ließ es ratsam erscheinen, die Rückkehr hinauszuschieben.

Mit der andauernden Abwesenheit aber wuchs die Belastung für die Familien in der Türkei. Viele Migranten hatten junge Frauen und Kinder in den Heimatdörfern und spürten die Entfremdung. Die Familien übten Druck aus, damit sie nachgeholt wurden. Familiennachzug und Heiratsmigration lösten ab der Mitte der siebziger Jahre die Arbeitsmigration ab. Mit dem Familiennachzug entstanden die "ethnischen Viertel" in der Bundesrepublik. Die Migranten verließen die Wohnheime und richteten sich in den Sanierungsgebieten der Innenstädte ein. Sie belebten Gebiete neu, die wie Berlin-Kreuzberg von den Stadtplanern schon aufgegeben waren.

Diese Migranten empfanden Deutschland als gurbet, als Fremde und Exil. Es war ein Ort, an dem sie zunächst nur ein instrumentelles Interesse hatte. Sie lebten auf die Rückkehr hin. Während sie sich in Deutschland mit dem Nötigsten begnügten, statteten sie die mit dem Ersparten angeschaffte Wohnung in der Türkei üppig aus. Sie täuschten sich darüber hinweg, dass sie in Deutschland gestrandet waren, indem sie die Zeit stückelten: Nicht jetzt, aber in vier Jahren würden sie zurückkehren. Die meisten sollten sich erst in den neunziger Jahren in die Tatsache fügen, dass sie tatsächlich zu Einwanderern geworden waren.

Diese Migranten bewohnten von vorne herein zwei Welten. In Deutschland arbeiteten sie, in der Türkei lebten sie. Eine wichtige Institution um die Beziehungen zu den Heimatorten aufrecht zu erhalten, waren die "Kultur- und Hilfsvereine". Nicht wenige anatolische Kleinstädte hatten solche Ableger in zwei oder drei Städten: Teehäuser und Gaststätten, um sich zu treffen, Informationen auszutauschen oder für Liederabende.

Besonders wichtig war auch der Urlaub. Er hatte wenig Gemeinsamkeit mit der gleichnamigen Veranstaltung in Deutschland, sondern diente im wesentlichen der Arbeit am Beziehungsnetz. Man suchte in den Städten und Dörfern die Verwandten auf. In die Zeit des Urlaub wurden die Familienfeste, Beschneidungen und Hochzeiten gelegt und nicht selten von den Migranten ausgerichtet. Nur wer Glück hatte, schaffte es, am Ende noch einige Tage zur Erholung am Meer zu verbringen.

Freilich wirkten sich die unterschiedlichen Lebensumstände auf die Beziehungsnetze aus: Die Verwandten in der Türkei betrachteten die "Deutschländler" nicht selten mit einer Mischung aus Neid und Missbilligung, letztere vor allem wegen der Sitten, die die zweite Generation übernommen hatte. Aber auch die Migranten registrierten, wie fremd ihnen das Leben in der Türkei geworden waren. Besonders traumatisch war es, wenn einer der Urlauber krank wurde und mit dem defizitären Gesundheitssystem konfrontiert wurde.

Das Beziehungsnetz wurde in Anspruch genommen, wenn die Familie es erforderte. Die Türken in Deutschland hatten ein Interesse daran, dass ihre Eltern versorgt wurden und halfen ihren Brüdern und Schwestern beim Kauf von Wohnungen in Istanbul oder Ankara. Die Türken in der Türkei konnten sich an ihre Verwandten in Deutschland wenden, wenn sie in Not gerieten. Manchmal wuchs dem Beziehungsnetz existenzielle Bedeutung zu. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre herrschten an den Universitäten der Türkei bürgerkriegsähnliche Zustände. Die Kämpfe zwischen Rechten und Linken kosteten Tausende junger Menschen das Leben. Viele Familien entschieden sich, ihre Kinder zu Verwandten nach Deutschland zu schicken.

Das Beziehungsnetz wurde besonders wichtig, als 1980 das türkische Militär den Ausnahmezustand verkündete und eine "bleierne Zeit" anbrach. Viele Oppositionelle aus dem islamischem oder dem kommunistischen Lager flohen damals zu Verwandten nach Deutschland, um Folter und Haft zu entgehen. Die Fluchtbewegung nahm noch einmal zu, als 1983 die PKK der türkischen Regierung den Krieg erklärte. Wieder kamen viele Bürgerkriegsflüchtlinge nach Deutschland, weil sie fürchteten, zwischen türkischem Militär, protürkischen Milizen und PKK zerrieben zu werden.

Viele Flüchtlinge waren unpolitisch oder froh, dem politischen Kampf entfliehen zu können. Ihre Lebensperspektive unterschied sich kaum noch von jener der Arbeitsmigranten. Für andere blieb der Traum einer politischen Umgestaltung der Türkei lebendig. Sie betrachteten Deutschland als Basis, um ihren politischen Kampf in der Türkei fortsetzen zu können - den Kampf für die kurdische Unabhängigkeit oder eine islamische Umgestaltung. So entwickelten sich neue, auf politischen Grundüberzeugungen basierende Netzwerke. Wie schon zuvor kam es manchmal zu Spannungen zwischen Migranten und Daheimgebliebenen, denn im Exil entwickelten sich die politischen Positionen weiter. Zuweilen wurden die politischen Ansichten gemildert, weil die Einwanderer in der Migration mit ehemaligen Gegnern eine gemeinsame Interessenlage gegenüber der deutschen Gesellschaft entdeckte. So kooperierten an manchen Orten Deutschlands islamische Gemeinden, die sich in der Türkei bekämpften. Bei anderen Gruppen kam es zu einer gegenteiligen Entwicklung: Aus der Distanz konnte man radikaler sein als im Mutterland.

Das Netz wurde jedoch nicht nur durch Wanderungen in die Bundesrepublik stabilisiert, sondern auch durch jene in die entgegengesetzte Richtung. Einige kehrten auf Dauer zurück. Andere richteten sich auf eine Pendelexistenz ein. Viele Rentner verbringen eine Hälfte des Jahres in der Türkei und die andere bei ihren Kindern in Deutschland. Das Ausmaß dieser Wanderungsbewegungen in beiden Richtungen ist kaum zu überschätzen. Zwischen 1990 und 1998 wanderten 640000 Menschen von der Türkei nach Deutschland ein und 390000 in der umgekehrten Richtung aus. Dies bedeutet, dass ungefähr ein Viertel der türkischen Bevölkerung Deutschlands sich erst weniger als zehn Jahre hier aufhält.

Zwei Entwicklungen haben diesen transnationalen Raum in den neunziger Jahren weiter verfestigt. Die revolutionären Entwicklungen in der Telekommunikation haben die Türken in der Türkei und jene in Deutschland näher zusammenrücken lassen. Zahlreiche Privatsender senden sowohl in Deutschland als auch der Türkei und schaffen damit einen integrierten Medienraum. Nicht weniger wichtig ist die drastische Verbilligung der Telefongebühren und die Etablierung des Internet. Türken in der Türkei und in Deutschland werden in eine Raum-Zeit integriert.Diese Angleichung wird durch die Entstehung einer transnationalen Ökonomie gefördert. Die langjährigen Beziehungen zwischen den Ländern halfen dabei, Geschäftspartnerschaften zu etablieren, die von den Preis- und Lohndifferenzen profitierten. Wie Ayse Çaglar gezeigt hat, wuchs damit den Heimatvereinen mit der Zeit eine neue Rolle zu. Etliche von ihnen entwickelten sich zu business associations, in denen Politiker und Geschäftsleute Kontakte pflegten.

Anders als man in den siebziger Jahren vermutete, hat sich dieses nationenübergreifende Beziehungsnetz mit dem Heranwachsen einer zweiten und dritten Generation in Deutschland nicht aufgelöst. Allerdings hat sich das Verhältnis der beiden Länder zueinander verändert.

Für die in Deutschland aufwachsenden Jugendlichen war die Bundesrepublik nicht mehr Fremde, gurbet, sondern Heimat. Sie lehnten die Rückkehrorientierung der Eltern ab. Andererseits reagierten viele mit Widerwillen auf den Assimilationsdruck der deutschen Gesellschaft. Sie legten Wert darauf, Türken in Deutschland zu sein. Während die erste Generation das Gefühl hatte, im Exil zu leben, entwickelte sich in der zweiten und dritten Generation des Gefühl, in der Diaspora zu leben.

Dies bedeutet, dass die jungen Türken auf Dauer an einem doppelten Bezugspunkt festhalten müssen. Mit Deutschland fühlt sich diese Generation verbunden, weil es das Land ist, durch dessen Institutionen sie geprägt wurde, wo sie leben will. Mit der Türkei, weil es in einem emphatischen Sinn das Land der Herkunft ist. Dies bedeutet mehr als roots: In Gesprächen mit Angehörigen der zweiten und dritten Generation hörte ich gerade nach dem 11. September immer den Satz, dass sie an der Türkei festhalten möchten, weil es das Land ist, in das man zurückkehren kann, sollte die Ausländer- oder Islamfeindlichkeit bedrohliche Dimensionen annehmen. Wie stabil auch die Bezüge dieser Generation in die Türkei sind, zeigt sich daran, dass die Hälfte der in Deutschland lebenden jungen Türken ihre Ehepartner in der Türkei findet.

Gerade diese Generationen pflegen einen life-style, der mehr demjenigen gleichaltriger Türken in Istanbul und Izmir zu entsprechen scheint als dem junger Deutscher. In beiden Ländern finden die gleichen symbolischen Kämpfe zwischen urbanem islamischen Modernismus und säkularem Laizismus statt. Die neuen Restaurants und Bars, die in Berlin und Izmir eröffnet werden, pflegen einen ähnlichen Chic von allgemein mediterraner Kultur mit türkischer Einfärbung. In der Türkei wie in Deutschland hört diese Generation die gleiche Musik. Gerade bei diesen kulturellen Formen hat man das Gefühl, dass die Definitionsmacht weiter bei den Türken in der Türkei liegt. Die meisten Moden entstehen in der Türkei und werden in Deutschland aufgegriffen. Die kulturellen Ähnlichkeiten zwischen den Türken in der Türkei und jenen in Deutschland bestehen neben und gleichzeitig zu den Differenzen, die sich aus unterschiedlichen Sozialisationen ergeben.

All dies widersprecht nicht starken lokalen Bindungen. Tatsächlich beobachtet man bei vielen Deutsch-Türken einen ausgeprägten Stolz auf die Städte, in denen sie leben. Sie sehen sich vor allem als Münchner oder Berliner. Das ist kein Zufall: Gerade die urbanen Lebensformen sind charakterisiert durch eine Bejahung von Differenz und Entwicklung. Gerade diese Offenheit erlaubt Identifikation: Die Kosmopoliten sind vor allem auch Kosmopoliten.

Der Autor ist Professor für Kultur- und Sozialanthropologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).

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