Sterben in Deutschland:Die Phrase namens Selbstbestimmung

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Oliver Tolmein fordert, dass sich Menschen für die Sterbebegleitung eine mehrmonatige Auszeit nehmen dürfen - ähnlich dem Erziehungsurlaub. Der Jurist und Publizist hat ein präzises, unromantisches Plädoyer für die Verbesserung des Sterbens geschrieben.

Oliver Müller

Oliver Tolmein hat ein unromantisches und höchst diesseitiges Memento mori geschrieben. Auf der Basis zahlreicher Gespräche, Besuche und des intensiven Verfolgens der rechtlichen Regelungen hat Tolmein die Realität des Sterbens in Deutschland aufgezeichnet (mit europäischen und nordamerikanischen Exkursen).

Allein wegen der erschütternden wie aufschlussreichen Einzelfallphänomenologie ist das Buch ein Gewinn. Die vielen Beispiele von Patientenschicksalen und pflegerischen und ärztlichen Grenzsituationen, von privater Mitgestaltung des Sterbens und öffentlicher Ignoranz, vom stillen "Garten der Erinnerung" in einem Kinderhospiz und dem traurigen Alltag in manch einem Altersheim werden zu Mosaiksteinen eines Bildes, eines Bildes vom omnipräsenten und gleichzeitig sehr verborgenen Todesalltag.

Tolmein berichtet in seinen Recherchen zwar vom tagtäglichen Altenheim-Horror - wundliegende Patienten, die ans Bett gefesselt sind, weil sie sonst vor ihrer Einsamkeit fliehen würden, und womöglich Windeln bekommen, weil sie niemand auf die Toilette begleiten kann -, doch mehr interessiert ihn, wie die Alternativen zu solchen schulmedizinischen Abschiebestationen aussehen und mit was für Problemen diese zu kämpfen haben, etwa die palliativen Dienste - die sich dem "Lindern" widmen und nicht mehr dem "Heilen" - oder die Hospize.

Neben dem Blick auf und in die Institutionen legt Tolmein den Finger in die Wunde einzelner Schwierigkeiten des Sterbeprozesses: So diagnostiziert er einige Missstände, was die finale Schmerztherapie angeht, und macht geradezu pädagogisch darauf aufmerksam, wie auch eine gewissenhaft formulierte Patientenverfügung wegen der vertrackten Realität im entscheidenden Moment doch gegenstandslos sein kann.

Tolmein fährt während seiner Recherchen auch nach Holland: Wenn er grundsätzlich gegen die dortige Praxis der Liberalisierung der Sterbehilfe ist, entgehen ihm nicht die positiven Entwicklungen im Nachbarland. Eine beeindruckende palliativmedizinische Versorgungsstruktur sei hier in kurzer Zeit entstanden, zudem sei es einfacher, Urlaub zur Versorgung der Angehörigen zu bekommen.

Das scheint wenig - aber genau darum geht es Tolmein: darauf aufmerksam zu machen, dass sich die Diskussion um die Sterbehilfe gemeinhin nur um Für und Wider des möglichst schnellen, unkomplizierten Todes dreht. Vergessen wird dabei die elementare und vielleicht viel wichtigere Frage, wie man die Monate und Jahre des Sterbens menschlich gestalten kann.

Neben der möglichst präzisen Skizze von der medizinischen Realität des Lebensendes - auch gerade hinsichtlich der ethischen und rechtlichen Verwicklungen -, wendet der Autor auch den Blick auf die Praxis, wenn es um die schnell verwendeten Begriffe geht.

Bürokratisierung des Sterbens

Solch ein Begriff ist das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, zweifelsohne eine gute Sache - aber: "Wenn die Wohngruppe für Demenzkranke nicht existiert oder zu teuer ist, wenn auf der Palliativstation kein Bett frei ist, wenn das optimale Schmerzmedikament hierzulande nicht zugelassen ist und deswegen nicht bezahlt wird, dann ist das Selbstbestimmungsrecht des Patienten nicht viel mehr als eine schöne Floskel."

Außerdem gehe es den Sterbenden meist nicht um möglichst große individuelle Selbstbestimmung, sondern um "anerkannt zu werden, so hilfs- und schutzbedürftig wie sie sind, und nicht den Eindruck haben zu müssen, anderen zur Last zu fallen." In der Verrechtlichung und Bürokratisierung des Sterbens scheint kein Platz mehr zu sein für das Wie und Wo des Sterbens, für das Gefüge, in dem der einzelne seinen Abschied nehmen konnte, für das, was früher Teil der Kultur war.

Dank seiner Sensibilität macht Tolmeins umtriebige Arbeit als Jura-Dozent, Rechtsanwalt, Filmemacher und Publizist auch dieses Buch zu einer guten Mischung aus juristischer Kompetenz, Kenntnis der Sachlagen und mitfühlender Darstellung der Leidenswege.

Seine Erkenntnisse aus seinen Erkundungen der Sterbe-Szene und die Schlussfolgerungen, die er daraus zieht, sollte man - weiterhin - diskutieren: So wie es ein Erziehungsjahr gibt, fordert Tolmein, sollte es einen gesetzlichen Anspruch geben, für die Sterbebegleitung eine mehrmonatige Auszeit zu nehmen - zur Zeit müssen manche Menschen ihren Jahresurlaub von drei Jahren am Stück nehmen oder verlieren ihren Job.

Deutlich plädiert Tolmein für den weiteren Ausbau der ambulanten Hospiz- und Palliativdienste, die manch sinn- und lieblosen Transfer in das Altersheim vermeiden könnte - es gibt Fälle, bei denen man mit einer Einweisung in ein Pflegeheim die damit sinkende Lebenserwartung billigend in Kauf nimmt.

Ein weiteres Anliegen ist Tolmein die Verbesserung der ärztlichen Ausbildung hinsichtlich der schmerztherapeutischen Möglichkeiten - auch vor dem Hintergrund, dass fehlerhafte Schmerzbehandlung hierzulande (noch) nicht als Körperverletzung gilt (wie in den USA), und dass sich viele Kassen aus kassenspezifischem Kalkül weigern, entsprechende Medikamente zu bezahlen.

Wenn man über Sterbehilfe oder über Beihilfe zum Suizid am Ende des Lebens redet, so könnte man Tolmein überspitzt zusammenfassen, dann muss man zuvor über die Konditionen des Sterbens reden. Denn eine Entscheidung für ein Ableben ohne größere Umstände birgt die Gefahr der Entsolidarisierung, da für die Verbesserung des Sterbens selbst die Toleranz sinken dürfte - und wenn es aus Mangel an Geld keine Alternativen zur derzeitigen Sterberealität gibt, wird ein schneller-schamhafter Tod zu einem echten Armutszeugnis des Liberalismus.

OLIVER TOLMEIN: Keiner stirbt für sich allein. Sterbehilfe, Pflegenotstand und das Recht auf Selbstbestimmung. C. Bertelsmann Verlag, München 2006. 256 Seiten, 14,95 Euro.

© SZ vom 25.7.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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