Städteplanung:Ode an die Effizienz

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"Schutzmaßnahme gegen den Terror der Zeit": Nirgends ist Planung so sinnlos wie in der Bebauung unserer Städte. Ein Plädoyer für Entschleunigung und Gelassenheit.

Robert Kaltenbrunner

Das Vertraute und Wiedererkennbare, das physisch Fassbare, an das Erinnerungen geknüpft werden und welches Gefühle auszulösen vermag: Für unser kollektives Gedächtnis ist das, so der Philosoph Maurice Halbwachs, unverzichtbar. Deswegen komme auch dem materiellen Aspekt der Stadt große Bedeutung zu, sei er doch für die affektive Bindung vieler Einwohner ausschlaggebend: Eine Mehrzahl der Stadtbevölkerung würde "zweifellos das Verschwinden einer bestimmten Straße, eines bestimmten Gebäudes, eines Hauses sehr viel stärker empfinden als die schwerwiegendsten nationalen, religiösen, politischen Ereignisse".

Raum als Ressource, die bewirtschaftet wird. (Foto: Foto: ap)

Die jüngeren, wie auch immer gelungenen Großprojekte - mögen sie nun Stuttgart 21, Hafen-City Hamburg, der Ackermannsbogen in München, Europäische Zentralbank oder Dresdner Neumarkt heißen - sie markieren stets auch eine Grenzerfahrung. Stellt doch die Stadt, wie wir sie kennen, eine Ansammlung von Räumen dar, in denen Geschichte und Geschichten eingelagert sind: Offensichtliche und verborgene, vertraute und mit Aufregung zu entdeckende. Das betrifft nicht nur Gebrauchswert und Stimmung, sondern die Wahrnehmung überhaupt. Mehr und mehr scheint freilich die Kategorie Zeit dabei eine aktiv eigenständige Rolle zu übernehmen.

Bereits die Industrialisierung verkoppelte Produktion, Transport, Verteilung und Verbrauch der Güter auf der Grundlage des Prinzips der abstrakten Zeit. Sie bewirkte eine Beschleunigung von der Produktion bis zum Konsum durch den Einsatz von Zeitverkürzungsmaschinen und -techniken. Sie forderte alle Beteiligten zu einem neuen Umgang mit der Zeit auf: zu ihrer wirtschaftlichen Nutzung. Und sie führte zur Bewirtschaftung der Zeit, die zu einem anerkannt ökonomischen Faktor wurde.

Hausfrauen unter Strom

Seit Ende des 19. Jahrhunderts bildet "Effizienz" einen gesellschaftlichen Schlüsselbegriff, dessen entscheidender Gradmesser die Uhr ist. Dahinter steckt die Aufforderung, die Zeit optimal zu nutzen, schneller zu arbeiten und schneller zu leben. Geschwindigkeit und Tempo formten - zumindest bis vor kurzem - auch den Privathaushalt nach ihren Regeln. Die Hausfrau musste sich bei ihrer Arbeit von Zeitnehmern über die Schulter blicken lassen, die Wohnungseinrichtung wurde nach zeitökonomischen Gesichtspunkten zusammengestellt, indem der Wohnungsgrundriss als zeitsparende Wohnmaschine konzipiert wurde.

Zwar gelten beim Wohnen heute wohl andere Paradigmen, nicht aber beim Verkehr: Eine möglichst schnelle Raumüberwindung durch beschleunigte Transportmittel gilt nach wie vor als die Leitlinie moderner Verkehrspolitik. Beschleunigung wird in unserer Gesellschaft mit ökonomischem Fortschritt, technischer Modernisierung und räumlicher Unabhängigkeit gleichgesetzt; sie ist ein Wert. Die technisch-ökonomische Rationalität in der Mobilitätsplanung betrachtet Zeit und Raum als Ressourcen, deren effiziente Bewirtschaftung durch Verkehrstechnik gewährleistet wird.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie das Haus zum Bestandteil der Megamaschine Stadt wurde.

Dem Prinzip der Beschleunigung wohnt indes ein Kardinalproblem inne. Denn die durch Motorisierung und Ausbau der Straßennetze erhöhte individuelle Beweglichkeit hat, wie zahlreiche Untersuchungen ergaben, kaum zur Einsparung von Reisezeit und zu größeren Freiheitsspielräumen geführt, sondern lediglich zur Ausdehnung der Entfernungen zwischen den verschiedenen Bereichen des täglichen Lebens.

Das Paradigma der Beschleunigung trägt also nicht der tatsächlichen Vielfalt städtischer Mobilitätsbedürfnisse Rechnung. Sie wirkt in vielerlei Hinsicht sogar kontraproduktiv, indem das Machtgefälle zwischen Langsamen und Schnellen wächst. Mobilität unter den Maßgaben technisch-ökonomischer Effizienzkriterien zu buchstabieren, ist problematisch, wenn es um die Verknüpfung von eher kurzen Wegen geht, die die unterschiedlichen Orte des Lebensalltags zusammenführt.

Urbanische Durchsetzungskraft

Was sich urbanistisch durchsetzte - und nach wie vor gilt -, ist eine aus dem Funktionalismus abgeleitete Analyse- und Planungstechnik. Sie ermöglichte und beförderte die Herausbildung unserer heutigen Siedlungsstruktur. Das einzelne Haus wurde zum Bestandteil der Megamaschine Stadt, die durch ihre vielfältigen Ver- und Entsorgungstechnologien den Haushalt von zahlreichen Arbeiten entlastete, aber um den Preis einer immer stärkeren Belastung der natürlichen Umwelt.

Wenn dies folgerichtiger Ausdruck eines zivilisatorischen Prozesses ist, dann muss man heute mit anderen Augen auf unsere urbane Entwicklung blicken. So problematisch die Analogie mit einem natürlichen Organismus auch sein mag, so sehr gibt es doch Ähnlichkeiten, die das Verständnis von Stadt erleichtern: Lebende Organismen erneuern zum Beispiel permanent einen Teil ihrer Zellen, aber niemals alle gleichzeitig und selten an einer Stelle konzentriert.

Gebäude mit Verfallsdatum

In Rhythmen von fünf bis 15 Jahren müssen Gebäude renoviert werden, um als Baubestand aufrechterhalten zu werden. Geschäftsbauten, Produktionsanlagen und Infrastrukturen haben charakteristische Investitions- und Lebenszyklen, die eingehalten werden müssen, wenn ihre Art der Raumnutzung auf Dauer sichergestellt werden soll. Auch bei Städten lässt sich ein permanenter zellularer Erneuerungsprozess feststellen. Komplexe biologische und menschliche Systeme haben Ähnlichkeiten in der Trägheit des Systemverhaltens gegen plötzliche Veränderungen.

Selbst in der drängenden Ökonomie der Zeit schwingt - in einer Art gegenläufigem Pendelschwung - die Ahnung davon mit, dass die Beständigkeit der gewohnten Räume um die Menschen herum das Aushalten von sozialen und anderen Veränderung abfedert, wenn nicht gar ermöglicht.

Überspitzt ausgedrückt: Je schneller der Wandel der Arbeits- und Lebensweisen, umso wichtiger scheint die Trägheit der alten Routinen und Formen als mentales Gegengewicht zu sein. Wenn die Zeitachse aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft keine sichere Orientierung mehr bietet, sucht man den Fortschritt im Bewahren!

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was die Städte unwirtlich macht.

Das ist mehr als konservative Befindlichkeit: Atmosphäre baut sich gerade bei städtischen Phänomenen nicht ad hoc, sondern nur über lange Prozesse auf. Und Architektur ist, wie es der amerikanische Theoretiker Karsten Harries formuliert, "nicht nur um den domestizierenden Raum herum. Sie ist auch eine große Schutzmaßnahme gegen den Terror der Zeit". In diesem Zusammenhang ist es nur scheinbar paradox, dass etwa die 1970er Jahre als hohe Zeit des Bauwirtschaftsfunktionalismus, zugleich aber als Dekade der Denkmalpflege gelten.

Dem liegt vielmehr eine gewisse Logik zugrunde. Nachdem Alexander Mitscherlich sehr folgenreich die "Unwirtlichkeit unserer Städte" konstatiert hatte, kam den Denkmälern eine neue gesellschaftliche Bedeutung zu: Sie wurden gleichsam zu Trägern emanzipatorischer Postulate gegen eben diese Unwirtlichkeit. Bürgerbewegungen setzten sich erfolgreich gegen Abbruch und Auskernung von Altbauten zur Wehr und bekämpften den fortschreitenden "autogerechten" Kahlschlag der Innenstädte.

Gründerzeit und Historismus wurden wiederentdeckt, ihre Wohnbauten neu geschätzt. So gesehen artikuliert Architektur also auch Zeit; sie gibt dem unermesslichen, ortlosen und unendlichen Raum ihr auf Erfahrung beruhendes menschliches Maß und Bedeutung. Und sie verhilft auch der endlosen natürlichen Zeit zu ihrem menschlichen Maßstab. Zwar scheint sich heute die Auffassung, dass Städte nicht mehr "mit dem Kompass" geplant werden können, ideell durchgesetzt zu haben, womit die Ausrichtung auf unveränderliche physikalische Bedingungen desavouiert ist.

Dessen ungeachtet strebt Stadtplanung aber (noch) immer danach, prognostizierten Entwicklungen mit neuen, möglichst weitsichtig angelegten Mauern gleichsam "vorzubauen". Eher aber müsste man endlich anerkennen, dass Stadtveränderung mühevolle Detailarbeit ist: ein sanftes Steuern von Prozessen, die am besten gleichsam von selbst laufen.

Dass Zeit und Raum auf schwer fassbare Weise ineinanderfließen, brachte Karl Valentin einmal auf folgenden Nenner: "Ich weiß nicht mehr genau, war es gestern oder war's im vierten Stock oben?" Die Kategorie Zeit offenbart sich in unserer Lebenswelt auf unprätentiöse Weise so allgegenwärtig, dass man sie zu ignorieren geneigt ist. Gerade die Koppelung von stabilen und instabilen Prozessen ist es ja, was Städte einerseits zu höchst dauerhaften und andererseits zu brodelnd lebendigen Gebilden macht.

Städte gehören zu den beständigsten gesellschaftlichen Strukturen überhaupt. Ihre Dauerhaftigkeit ist aber unlösbar verbunden mit ständiger Veränderung und Entwicklung. Denn je umfassender die Planung, je konsequenter die Utopie, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Ungeplante durchsetzt - am Ende, so lässt sich prophezeien, dringt immer das Gras durch die Ritzen des Betons.

Für die Stadtentwicklung heute muss wie in der Kunst gelten: Es gibt nichts Schlimmeres, als es gut gemeint zu haben. "The future is the past in reverse", hat Vladimir Nabokov einmal formuliert, und so werden auf die formwerdende Zukunft unserer Städte häufig die Retrovisionen einer "guten Vergangenheit" projiziert.

Demgegenüber wäre heute mehr Demut vor den Eigenlogiken städtischer Entwicklung und mehr Gelassenheit und Normalität einzufordern. Planen kann man eben immer nur in einem begrenzteren Rahmen, als es Planern lieb ist. Der Rhythmus einer belebten (und belebenden) Stadt wird immer von Ungleichzeitigkeit geprägt sein. Hier funktioniert nichts nach einem zentralen Zeitregime. Eine Stadt ist nur dann lebendig, wenn man darauf hoffen darf, dass nicht alles nach Plan verläuft.

Die tatsächlich urbane Stadt, sie lebt wesentlich von der beständigen Erwartung, dass alles, was ist, auch anders sein könnte.

© SZvW vom 14./15.03.2009/irup - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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