Spielart:Einer gegen alle

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Bedrückende Bettgeschichten: The Vacuum Cleaner in "Mental". (Foto: Sophie Nathan)

Das Solo "Mental" und die "Proletenpassion 2015 ff." bei Spielart

Von Eva-Elisabeth Fischer und Egbert Tholl, München

Einmal pathologisiert, einmal kriminalisiert, und man hängt in einer Dauerschleife - registriert, hospitalisiert. James Leadbitter aus Lancashire - das macht sich an seiner Aussprache mit den vielen "U" bemerkbar - James Leadbitter alias The Vacuum Cleaner also, hat sich unter sein Plumeau verzogen, spechtet aber immerhin ganz vorsichtig hervor, um seine Besucher in Augenschein zu nehmen.

Die haben sich, dank ihrer Eintrittskarte vom Festival Spielart, strumpfsockig um sein Bett gehockt in einer Etagenwohnung in der Schillerstraße 14, um "Mental", seine Geschichte zu hören, eine Geschichte, die sich von Arzt- und Polizeibericht zu Arzt- und Polizeibericht hangelt, seine amtlichen Zeugnisse fühlloser Depression, dokumentiert von 1999 (da war er 19) bis heute. In dem Jahr, als seine Psychokarriere begann hatte sich übrigens Sarah Kane, die Dramatikerin mit ähnlichen einschlägigen Erfahrungen, das Leben genommen. Das wirft kein gutes Licht auf das National Health Service, ja auf den britischen Sozialstaat als solchen.

Beim Vacuum Cleaner macht die Mischung die Brisanz seiner letztlich schamlosen Selbstausstellung aus: Die Fakten und ihre Folgen verschränken sich unentwirrbar, und man wird auch nie erfahren, was über die Dokumente hinaus allein seiner Vorstellung entspringt. Wann James Leadbitter, der Borderliner, oder Leadbitter, der Umweltaktivist, gemeint ist, ist irgendwann egal. Denn er lebt in einem Land, wo Selbsttötung bis 1961 als Straftat geahndet wurde, und wo wider besseres Wissen gerade zwei neue Atomkraftwerke gebaut werden. Da gilt so einer wie der da schnell als öffentliche Gefahr.

Nun liegt er also in seinem Bett und kramt mit krampfigen Fingern in diesem Wust von Akten und Ärzteberichten, die er dank des liberalen Datenschutzgesetzes in seinem Land ausgehändigt bekam. Legt gescannte Folien auf den Overheadprojektor und Platten auf den Plattenteller, kippt eine Tüte mit Psychopharmaka aus, alles ganz akribisch im Timing, und liest vor, was da zu lesen ist, legt schließlich seinen Rücken bloß, vernarbtes Zeugnis seiner Autoaggression wie auch seiner politischen Verzweiflung: Er hat sich "This civilization is fucked up" eingegraben wie die Egge aus Kafkas "Strafkolonie" die Erkenntnis in den Rücken des Delinquenten. Das allein rechtfertigt schon diese Seeleninspektion als Performance. Denn James Leadbitters Weg aus der Dauerschleife bahnte ihm die Kunst.

Solche Notwendigkeit liegt "Uniform", einem Tanztheater von 90 Minuten gähnender Langweile, völlig fern. Sieben an sich gute Tänzer und Performer samt dem Tonkünstler Hahn Rowe, allesamt aus dem Dunstkreis von Meg Stuart, haben sich in der Regie von Simone Aughterlony und Jorge León in Polizeiuniformen auf einem blauen Spielfeld versammelt, um coram publico mit kruden Grapschereien auf einem Matratzenlager die fließende Grenze zwischen Umarmung und Übergriff, Macht und Ohnmacht, Zärtlichkeit und Aggression auszuloten. Und mopsen sich dabei offenbar zu Tode. Anders, aber nicht besser: Das krause Zeug, das Christoph Meierhans tags darauf zur basisdemokratischen Optimierung politischer Effizienz unter dem poetischen Titel "Some Use for Your Broken Clay Pots" absondert.

Konkret wird es danach, bei der "Proletenpassion" in der Muffathalle. Die kann man am Samstag noch einmal erleben, und wer die Richtigkeit der herrschenden Verhältnisse anzweifelt, ein wenig Geschichtsunterricht braucht oder einfach gute Musik hören will, sollte da hingehen: 500 Jahre Klassenkampf, und ein Ende ist nicht in Sicht. Man kann sich heute noch gut vorstellen, wie die "Proletenpassion" 1976 geknallt haben muss, im einst und immer noch ein klein bisschen roten Wien, auch wenn das, was die Band Schmetterlinge damals musikalisch ablieferte, nicht nur aus heutiger Zeit ein bisschen zopfig klang. Das ist heute anders.

Anfang dieses Jahres kam die "Proletenpassion 2015 ff." im Wiener WerkX heraus, musikalisch erfrischt durch Gustav, deren Band und Knarf Rellöm. Aber was heißt da erfrischt: Auch ohne den Überbau wäre dies ein fabelhaftes Konzert, ungemein vielgestaltig und immer völlig konkret, punkig und auch mit viel Grandezza ausgestattet. Neun Leute stehen auf der Bühne, umgeben von Bannern mit den wichtigsten Parolen aus den vergangenen Jahrhunderten. "Friede den Hütten, Krieg den Palästen" steht da etwa oder auch das mit dem Muff unter den Talaren. Ein paar der Neun singen, lesen Verlautbarungen vor, erzählen. Die anderen spielen Schlagzeug, Bass, Gitarre, Posaune, Klavier, Keyboard oder Melodika, und unter allen sticht Gustav heraus, das präzis schlagende Herz der Musik. Eva Jantschitsch ist eine mit viel Energie aufgeladene Schönheit, und sie singt fabelhaft anrührend, wild, mit Pathos und einer im Halbdunkel leuchtenden Stimme ausgerüstet.

Im Original endete die "Proletenpassion" mit der Oktoberrevolution, beginnend mit den Bauerkriegen am Ausgang des Mittelalters über die französische Revolution und die Pariser Kommune. Die Regisseurin Christine Eder, die Musiker und Heinz R. Unger, bereits Autor der Originalversion, fügten aktuell noch zwei Stationen hinzu - eine funkelnd kluge Auseinandersetzung mit dem Faschismus und die Geburt des Marktes aus dem Geist des Neoliberalismus. Daneben berichten immer wieder Mitglieder der Band von (recherchierten) Erlebnissen aus den Siebzigerjahren, Kreisky, Brandt, RAF und der Beginn eines auch bewaffneten Widerstands in Österreich. So wird der bei aller Verve und schöner Verspieltheit leicht volkshochschulig anmutende Vortrag der historischen Ereignisse ausgemalt mit Zeitgenossenschaft und tönend virulent. In den Bauernkriegen konnte man den Reichen wenigstens noch den Schädel einschlagen, heute spricht der Markt selbst. Geht es ihm schlecht, geht es allen schlecht, die Lage ist verzwickt. Und doch bleibt da eine wunderbare, auch in ihrer ganzen Naivität tröstlich wirkende Utopie: "Wir lernen im Vorwärtsgehen."

© SZ vom 31.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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