Slums und Zuwanderung:Anfang im Elend

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Für die meisten der armen Zuwanderer vor allem der Dritten Welt heißt die Zukunft erst einmal: Slum. Urbanisten streiten: Sind Slums die Hoffnung der Städte oder die Hölle auf Erden?

Petra Steinberger

Feuer in einer illegalen Siedlung bei Manila, irgendwann im April. 600 Hütten werden zerstört, Tausende Menschen obdachlos. Der Ort hat keinen Namen. Das würde ihm den Anschein von Dauerhaftigkeit geben, von Legalität. Die Bewohner dieses namenlosen Ortes stehen bis zum Hals im Schlamm, um eine Habe zu retten, die im Wesentlichen aus einigen Blechtöpfen besteht, ein paar Kleidern, vielleicht einem Radio: ortlose Armut. Im selben Monat werden in einer Favela in Rio de Janeiro 19 Menschen an einem einzigen Tag erschossen: Bandenkrieg.

Und am Rande einer afrikanischen Stadt vertreibt unterdessen das Militär einige tausend Familien, die hier ihre Baracken errichtet haben: Stadtsanierung. Die Betroffenen haben keinen Fürsprecher, niemand wird sie entschädigen, niemand wird sich um sie kümmern. Es handelt sich um die Bewohner jener urbanen Geschwüre, die rund um die Städte das verarmte Gegenbild von Suburbia geworden sind: Slums.

Nun liegt die Zukunft der Erde schon seit längerem in den Städten. 1,3 Millionen neuer Einwohner ziehen jeden Tag in die Städte, etwa 70 Millionen im Jahr. Dies ist die größte Massenbewegung in der Geschichte der Menschheit. Ein Wissenschaftler hat die weltweite Urbanisierung eine "explodierende Kontraktion" genannt. Aber für die meisten der armen Zuwanderer vor allem der Dritten Welt heißt die urbane Zukunft erst einmal: Slum, Shanty Town, Barackensiedlung, Favela, Barrio. Bald werden ungefähr ein Drittel aller Stadtbewohner vor allem in der südlichen Hemisphäre in solchen Slums leben; in Lagos und anderen Städten Afrikas sind es jetzt schon mehr als 75 Prozent.

Ist das die Zukunft eines Großteils der Menschheit? Eine Zukunft im Unrat, illegal, unstet, hoffnungslos? Begannen andererseits nicht selbst die modernen Superstars unter den Städten ähnlich - als Hüttenansammlung im Dreck, ohne Infrastruktur, ohne Wasser, ohne Kanalisation? Je größer der Marsch auf die Städte wird, desto heftiger debattieren Urbanisten und Soziologen darüber, ob die Slumbewohner des 21. Jahrhunderts ähnliche Hoffnungen haben dürfen wie die Landflüchtlinge des 19. Jahrhunderts. Bleiben Slums eine Endstation, oder sind sie die Startrampe für den gesellschaftlichen Aufbruch? Denn die dritte Variante, die Rückkehr aufs Land, ist versperrt.

Natürlich wollen die Bewohner der wuchernden Slums heute genauso wie damals vor allem so schnell wie möglich der Armut auf dem Land und in den Provinzen entkommen. Das sei ein Prinzip Hoffnung, sagt Stewart Brand, Vordenker der vernetzten Zukunftsgesellschaft und Mitgründer des legendären "Whole Earth Catalog". "Im Dorf bleibt der Frau nur, ihrem Ehemann zu gehorchen und den Dorfältesten, sie kann Getreide mahlen und singen. Wenn sie in die Stadt zieht, kann sie einen Job finden, ein kleines Geschäft eröffnen und ihren Kinder eine Ausbildung finanzieren." Diese Hoffnung habe letztlich jeden Slumbewohner an die Stadtränder getrieben, und deshalb steckt in den Elendsvierteln immer die Möglichkeit einer besseren Zukunft.

Brand steht für die optimistische Linie der Urbanisten und Gesellschaftstheoretiker. So nennt er das chaotische Treiben: vibrant. Pulsierend, lebhaft, dynamisch. Solche Worte sind beliebt bei den Optimisten unter den Slumexperten. Jede staubige Straße ist für sie ein geschäftiger Markt mit Bars, Barbieren, Kirchen, Schulen und vor allem Geschäften, in denen von Lebensmitteln über Raubkopien bis hin zu billigen Medikamenten alles vertrieben wird. Ein hoffnungsvoller Ort voll potentieller Kunden.

Götter des Chaos

"Pulsierend" nennt der Architekt Rem Koolhaas die Slums der nigerianischen Hauptstadt Lagos. "Dynamisch" nennen die Planer von UN-Habitat den freien Markt der informellen Schattenwirtschaften, der außerhalb jeder staatlichen Kontrolle und gerade mal über der Subsistenzebene existiert. "Lebhaft" sind selbst die Grundstrukturen einer "grünen" Stadtökologie, die zwar vor allem dem Mangel und der Notwendigkeit der Wiederverwertung geschuldet ist, aber vielleicht hinübergerettet werden kann in bessere Zeiten, wenn Slumbewohner die soziale Leiter erklommen haben und von Autos träumen statt von Fahrradrikschas. "Seit Beginn der Zivilisation", sagt Brand, "sind Städte die Antriebsmaschine für ihren Reichtum gewesen." Und daran wird sich seiner Meinung nach nichts ändern.

Auf der anderen Seite steht wortgewaltig Mike Davis, Amerikas großer sozialistischer Stadttheoretiker. "Statt in hoch zum Himmel strebenden Lichterstädten zu leben, wird ein Großteil der urbanen Welt des 21. Jahrhunderts inmitten von Umweltverschmutzung, Exkrementen und Abfall im Elend versinken", lautet sein Fazit in seinem gerade auf deutsch erschienenen Buch "Planet der Slums", (Assoziation A Verlag, Berlin), einer düsteren Chronik der Massenbewegung in die Städte.

Slums beschreibt er da als eine Unterwelt, die niemanden mehr interessiert und in der die mühsam erkämpften sozialen Regeln längst wieder außer Kraft gesetzt sind. Slums bedeuten für Davis die Ausbeutung der Armen durch die etwas weniger Armen, die Vertreibung und Verachtung der Neuankömmlinge durch solche, die sich ein paar Jahre früher hier einen Platz erkämpften. Slums sind für ihn eine Globalisierung des Elends, in der Frauen und Kinder Motor der Schattenwirtschaft sind, ohne davon je zu profitieren. Brände, Überflutungen, Schlammlawinen, Chemieunfälle, Behördenwillkür und Gewalt treffen vor allem die urbanen Nichtorte. Sie ziehen das Unglück geradezu an, denn sie entstehen meist dort, wo keiner sonst leben will, wo es gefährlich ist und ungesund.

Slums sind schließlich jene geschichtslosen Orte, in denen die Aufständischen, die Gotteskrieger und Rebellen der Zukunft heranwachsen, die das Herz jener Finsternis bilden, die Militärstrategen "verwilderte Städte" nennen: unkontrollierbare Wohnsümpfe, aus denen die gated communities, die Einfriedungen der Reichen wie Trutzburgen herausragen.

Im Slum, sagt Davis, stirbt jede Hoffnung. Und als ob er sich den Kollaps herbeiwünschte, beschwört er eine apokalyptische Dystopie: "Nacht für Nacht rattern Kampfhubschrauber auf der Jagd nach rätselhaften Feinden wie Hornissen über die engen Gassen der Slumviertel... Jeden Morgen antworten die Slums mit Selbstmordattentaten und Explosionen. Während das Imperium über ein Orwellsches Arsenal an Repressionstechnologien verfügt, haben die Geächteten die Götter des Chaos auf ihrer Seite."

Zwischen der Hoffnung und dem Chaos sind der Stadtplanet Erde und seine Slums längst Realität. Für Theorie bleibt da in der Praxis keine Zeit. Welche Zukunft die Städte haben, ist damit vor allem eine Frage des sozialen Willens, das Phänomen Slum nicht als gegeben hinzunehmen.

© SZ v. 26.4.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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