Das Orest-Motiv bildet den Kern der Hamlet-Tragödie: Der Dänenprinz soll den Mord rächen, den seine Mutter an seinem Vater verübt hat. "Orest in Mossul" von Milo Rau war kürzlich in Bochum zu sehen. Nun hat sich Johan Simons, der Intendant am Schauspielhaus Bochum, anders als der Kollege aus Gent nicht verpflichtet, mindestens eine Produktion pro Jahr in einem Krisengebiet herauszubringen oder auf die werkgetreue Adaption von Klassikern zu verzichten.
Wenn also Simons den Hamlet mit Sandra Hüller besetzt, dann ist das weniger eine politisch motivierte Pflichtübung als die Reverenz an eine herausragende Schauspielerin. Und Hüller, in Flanellhose und schlichtem schwarzen Pulli, macht ihre Sache großartig: Hamlets Brillanz, seine intellektuelle, wenn auch leider nicht tatkräftige Überlegenheit könnten nicht besser herausgearbeitet sein als in dieser Interpretation durch eine feinnervige, hoch motivierte Schauspielerin.
Hüller als Hamlet wirkt kühl-distanziert und emotional zugleich, sie ist ganz bei sich und kokettiert dann wieder mit dem Publikum, moduliert ihre Stimme, spielt den Geist des Vaters gleich mit und auch fast alle Rollen in der "Mausefalle". Sie räsoniert und schluchzt, schreit (selten) und flüstert. Diese Besetzung ist ein echter Coup, weil die Rolle, wie Shakespeare sie geschrieben hat, weniger eine maskuline Signatur trägt, als vielmehr die Summe aller menschlichen, geistigen Möglichkeiten in sich birgt.
"Ich will eine Frau sein" heißt es übrigens auch in Heiner Müllers "Hamletmaschine", bevor der Rollenverweigerer dann doch beschließt: "Ich will eine Maschine sein." Dass der Bochumer Abend mit einem kurzen Zitat aus Müllers legendärer Hamlet-Verdichtung beginnt, hat allerdings für den weiteren Verlauf keine Bedeutung. Simons dekonstruiert das Stück nicht, er lässt einfach spielen und gewährt seinen Spielern viele Freiheiten, darin Jürgen Gosch ähnlich, dessen Übersetzung, deutlich gekürzt, er benutzt.
Sie wolle "den Zynismus unterbinden", hatte Hüller zuvor erklärt
Einfach? So einfach ist das natürlich alles nicht; der komplexe Text, mag man ihm auch rabiat mit der Schere zu Leibe rücken, entfaltet eine Widerstandskraft, er enthält ja alles zugleich: Tragisches und Komisches, Politik und Psychologie, Metaphysik und Philosophie. Je offener und weniger auf eine Lesart hin er festgelegt, sondern aufgeführt wird, desto eher tun sich Widersprüche auf.
Sie wolle "den Zynismus unterbinden", erklärt Sandra Hüller im Programmheft. Das ist ehrenwert und sehr sympathisch, kann aber kaum gelingen. Spätestens mit dem Affektmord an Polonius, trocken gespielt von Bernd Rademacher, wird Hamlet doch zum Zyniker, dem die Dynamik der Ereignisse umso heilloser über den Kopf wächst, je schärfer er sie analytisch durchdringt. "Er ist beim Abendessen, und zwar da, wo er gegessen wird", antwortet Hamlet auf die berechtigte Frage nach dem Verbleib des braven Haushofmeisters - geht es noch zynischer? Auch wenn Hüller diese Pointe, sie ist eine von ungezählten, deutlich beiseiteschiebt, weil ihr unwohl dabei ist, ändert dies nichts an der sich verfestigenden moralischen Erstarrung des Helden, eine Entwicklung, die Simons' Inszenierung dann doch etwas beschönigend unterschlägt.
Die Bühne des Minimalisten Johannes Schütz ließe eine andere Deutung erwarten. Sie zeigt einen niedrigen weißen Kasten, der an eine Eisbahn erinnert, darüber schweben ein weißer Ballon und eine bewegliche Metallplatte. Metaphern für den tiefgekühlten Zustand, in dem der Königshof gefangen ist und an dem sich auch nichts wieder "einrenken" lässt, bis alle tot darniederliegen. Stefan Hunsteins Claudius im weißen Pelz ist ein impulsiver, eher herrischer als ängstlicher Usurpator. Der Hof tritt nicht aus den Gassen, sondern aus der ersten Parkettreihe auf, auch hier knüpft Simons an Goschs häufig erprobte Strategie an, die Rampensituation zu überspielen. Wenn in der Totengräberszene drei Metallkugeln anstelle von Schädeln über die Eisbahn rumpeln, hat Hamlet längst resigniert. Seine Auseinandersetzung mit Laertes ist bloß ein Scheingefecht, und so ist es auch inszeniert: Das Schlussbild wird nicht ausgeführt, sondern lediglich erzählt.
Das zentrale Ereignis des Abends ist und bleibt Hüllers Performance
Aller Einwände ungeachtet hat der Abend auch wunderbar humorvolle Momente, und darin, nicht in der Kreation von Lesarten, liegt ja Simons' Charme. Die Szenen zwischen Hüller und der von der quecksilbrigen Gina Haller gespielten Ophelia, die zugleich auch ein bisschen Horatio ist, sind allein schon den Besuch der Aufführung wert. Haller interpretiert die zurückgewiesene Geliebte des Helden nicht melodramatisch, sondern in der Art eines androgynen Harlekines, der den arg mit sich selbst beschäftigten Welt-Einrenker zärtlich parodiert. Fast ebenso einnehmend bietet Jing Xiang einen multipel verwendbaren Clown, Totengräber inclusive. Ann Göbel steht ihr dabei oft nur tapfer zur Seite.
Das zentrale Ereignis ist und bleibt aber Sandra Hüllers Performance. Der Zusammenprall ihrer relativ idealistischen Deutung Hamlets mit der eher unklaren Anlage der gesamten Inszenierung verursacht vorübergehend Kopfweh, ist aber letztlich wohl doch zu verschmerzen. Der Rest war einfach nur Jubel.