Schauspiel:Spielen, um zu überleben

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So sieht sie aus, die Erinnerung an Papas Geburtstagsparty, lange vor dem Krieg. (Foto: Ludwig Olah)

Alexander Nerlich inszeniert Noah Haidles "Skin Deep Song" am Theater Ingolstadt

Von Egbert Tholl, Ingolstadt

Alles ist kaputt im Kleinen Haus des Theaters Ingolstadt, auch die große Micky-Maus-Figur ist zerteilt, von einem spektakulär havarierten schwarzen Golf, also von dem Auto, das so heißt. Das große, weiße Party-Zelt ist arg zerzaust, die Lämpchengirlanden hängen schief, leuchten aber noch. Manchmal. Leere Flaschen stehen herum, in denen schon lang keine Flüssigkeit mehr ist, sondern Sand. Ab und an dröhnt ein Kampfjet über das von Wolfgang Menardi geschaffene Ambiente, dann wackelt alles. Wie überhaupt das Sound-Design des Abends fabelhaft ist. Malte Preuß bringt Krieg zum Klingen, Verwüstung, Leere, er flechtet die für die Aufführung nötigen Songs mit ein, Otis Redding etwa. Einmal weht ein Lied von Rod Stewart herbei, als wäre irgendwo da draußen, hunderte Meter entfernt, eine altertümliche Diskothek.

An diesem Ort der Zerstörung aller Zivilisation erschafft Alexander Nerlich Menschen. Die beiden Schwestern Mimi (Sarah Schulze-Tenberge) und Woden (Mira Fajfer) hausen hier in symbiotischer Vertrautheit, anfangs in Zärtlichkeit verschlungen im Inneren des Autos, dann empathisch verbunden im Spiel. Vieles, was man hier sieht, ist Ausgeburt dieses Spiels, vielleicht gar alles, es gibt keine definierte Realität mehr, weil es keine Welt mehr gibt. Woden und Mimi leben am Rande eines Krieges, den vielleicht ihr Vater ausgelöst hat, der auf jeden Fall ihn das Leben gekostet hat, seine Frau auch.

Noah Haidle schrieb vor ein paar Jahren das dunkelgraue Stück "Skin Deep Song", das Thomas Krupa übersetzte und Anfang 2013 in Essen zur Uraufführung brachte. Auch in Ingolstadt spielt man Krupas Übersetzung, aber zum Glück sehr schlau gekürzt, weil man den Text irgendwann zu sehr durchschaut hat, um ihm noch viel Sensation abgewinnen zu können. Wenn in Nerlichs Inszenierung dieser Punkt erreicht ist, steuert der Abend auch schon auf die Zielgerade zu.

Woden und Mimi sind bei Nerlich zerzauste, glatzköpfige, wüst geschminkte Wesen, die sich mit zärtlicher Verzweiflung an festen Ritualen festklammern. Sie erzählen sich Witze, die sie inzwischen perfekt beherrschen, sie spielen "letzte Worte", also Sprechen vor dem Sterben. Sie nehmen die Leichen ihrer Eltern zur Hand, und wenn eine Spielszene besonders gut gelingt, fangen diese zu leben an bis zur grellen Eigenständigkeit. Dann wird Ralf Lichtenberg wieder der durchgeknallte Mafioso mit Kino-Joker-Allüren. Dann wird Victoria Voss wieder zur liebenden Mutter, bis schließlich ein möglicherweise einem "Mad Max"-Film entsprungener Attentäter die Eltern erschießt. Eilig besorgen die Schwestern die Szenerie, spritzen Blut an die Zeltplane.

Mal kommt noch der Opa (Jan Gebauer) vorbei, in Bademantel und Windel, aber mit der Würde großer Sprechkunst; mal taucht Hal (Marc Simon Delfs) auf, eine mögliche Liebe der Schwestern, der als Deserteur brutal von einem Soldaten einkassiert wird. So zerhaut hier alles ist, so erzählt Nerlich doch von einer letzten Hoffnung, von mancher tröstlichen Erinnerung. Am Ende beenden die Schwestern ihr Spiel, dann ist alles aus, und die Leichen können ruhen.

© SZ vom 23.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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