Sammelband:Virtuose der Mimikry

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Über Überlebenskünstker: Hans Magnus Enzensberger hat "99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert" zusammengestellt.

Von Helmut Böttiger

Hans Magnus Enzensberger hat die Dinge selten allzu eng gesehen. Deshalb ist es auch egal, dass er bereits auf der zweiten Seite seines neuen Buches das Gedicht "Die gestundete Zeit" von Ingeborg Bachmann auf das Jahr 1958 datiert (es erschien fünf Jahre vorher in ihrem gleichnamigen Debütband). Und man schmunzelt allenfalls ein bisschen, wenn er wenige Seiten später angibt, Gerhart Hauptmann habe sich "im Sommer in ein Kloster auf der Insel Hiddensee" zurückgezogen. "Kloster" heißt die wunderschöne Ortschaft auf besagter Insel, in der sich Hauptmann eine äußerst repräsentative Villa gebaut hat. Man nimmt es bei Enzensberger nie so genau, denn womit er immer zuverlässig punktet, das ist sein gesamter Habitus. Er ist halt ein Überlebenskünstler. Deshalb ist es auch ein autobiografisches Augenzwinkern, wenn er jetzt als 88-Jähriger "99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert" vorlegt, unter eben diesem eindeutig bewundernden Titel: "Überlebenskünstler".

Kennerisch bei Benn und Borchardt, doch bei Seghers fällt ihm fast gar nichts ein

"Vignetten" ist ein schönes Wort, es passt sich wunderbar ein in das "Journal des Luxus und der Moden", das Enzensberger bereits Ende der 70er-Jahre gegründet hat, oder in die buchbinderische und grafische Gestaltung der "Anderen Bibliothek", die er kurz danach ins Leben rief. Eine Vignette bezeichnet im Französischen eine Rebsorte, später hieß das gesamte Etikett der Weinflasche so, und zuletzt meinte dieses Wort dann allgemein Randverzierungen in der Drucktechnik. Enzensbergers 99 Vignetten sind zwei-, höchstens drei- oder vierseitige Porträts von Schriftstellern, die er zu obigem Behufe zusammengestellt hat. Bei dieser Kürze, so könnte man meinen, käme es auf jedes einzelne Wort an. Das ist aber beileibe nicht so. Es geht um das Prinzip.

Zu Enzensbergers "Überlebenskünstlern" des 20. Jahrhunderts gehören natürlich nicht die Schriftsteller, die in den beiden Weltkriegen getötet wurden. Und es geht auch nicht um diejenigen, die tragisch früh ums Leben gekommen sind oder Selbstmord begangen haben - und dazu gehören wohl einige der größten. Enzensberger interessiert sich vornehmlich für jene, die die verheerenden zeitgeschichtlichen Ereignisse überstanden haben, sich durchlavieren konnten und deshalb mit ihnen nicht sofort eindeutig zu identifizieren sind. Mit am deutlichsten fasziniert ist er von jemandem wie Curzio Malaparte, bürgerlich Kurt Erich Suckert, denn der war alles, Anarchist und Diplomat, Avantgardist und faschistischer Aufhetzer von Schlägertruppen, amerikanischer Spion und Verehrer Mao Zedongs. Enzensberger schreibt: "Fiktion und Fakten wollte und konnte er nicht voneinander unterscheiden", und deshalb scheint dieser "Virtuose der Mimikry" Enzensberger besonders nah zu sein.

Die Geschichte ist hier vor allem ein spannender Abenteuerspielplatz. Forcierte Rechtsradikale wie Ernst Jünger oder Céline stehen traut vereint mit Kommunisten wie Maxim Gorki, Ilja Ehrenburg oder Pablo Neruda, und Enzensberger geht an alle gleichermaßen neugierig heran. Ausgemalt wird ein Bild, vor dem man kopfschüttelnd und lächelnd und mit Shakespeare sinnieren kann: Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als eure Schulweisheit sich träumen lässt...

Im Französischen bezeichnete das Wort "Vignette" erst eine Rebsorte, dann das ganze Etikett

Kurz nach dem Krieg, als ganz junger Mann, hat Enzensberger Carl Zuckmayer gesehen und gehört, als dieser unter freiem Himmel eine Rede an die "Jugend" hielt - "das waren wir", kommentiert der Autor ein bisschen kichernd im Rückblick. Um dieses Ereignis kreist er mehrfach, bei derselben Gelegenheit sprach etwa auch Erich Kästner. Es scheint ein Moment gewesen zu sein, an dem Enzensberger zum ersten Mal der Topos des "Überlebenskünstlers" bewusst wurde. Erich Kästner steht, wegen derselben Initiale, assoziativ an der Seite von Erhart Kästner, der sich weitaus weniger charmant und integer durch die Zeit des Nationalsozialismus hindurchgeschmuggelt hatte. Enzensberger benennt das durchaus, aber im Vordergrund steht eine Technik, die besonders bei seiner Beschreibung von jemandem wie Heimito von Doderer auffällt: Wo es besonders kauzig, originell, abwegig und verwegen zugeht, ist er in seinem Element, am liebsten lacht Enzensberger alles weg. Die Vignette zu dem radikal linken Freund Peter Weiss zeigt vielleicht am besten ein weiteres Spezifikum dieses Buches. Enzensberger streut nämlich immer wieder geschickt, wie nebenbei, eine persönliche Erinnerung ein, er hat ja viele gekannt. Listig erwähnt er, dass er in den frühen Sechzigerjahren mal mit dem Ehepaar Weiss, das einen Strandurlaub plante, am Flughafen festsaß. Er führte sie zum Drehständer mit den Büchern und stellte fest: "Da ist was Anständiges unter dem ganzen Schrott: die Frühschriften von Karl Marx. Kennst du das?" Weiss kaufte das dann wohl, und Enzensberger fügt in seiner unnachahmlichen Diktion hinzu: "Ich konnte ja nicht wissen, was ich damit angerichtet hatte." Auch bei Ingeborg Bachmann fällt so ein Satz: "1959 verbrachten wir ein gemeinsames Jahr in Rom", doch gemach: Er war Stipendiat der Villa Massimo, und sie lebte eh dort. Aber zentral sind natürlich schon "die vielen Liebhaber, die sie ertrug", und dass einer von ihnen "ein Verschwörer aus Algerien" gewesen sei, der "gegen die französische Kolonialmacht kämpfte". Manche Charakteristiken dieses Buches sind hübsch pointiert. Und bei der Einordnung etwa Rudolf Borchardts zeigt sich eine souveräne Unabhängigkeit. Sehr kennerisch lässt sich Enzensberger über Gottfried Benn aus oder über Ezra Pound. Bei manchen dieser Vignetten hat man aber durchaus das Gefühl, dass er vor allem auf die Zahl 99 kommen wollte, da ist einiges läppisch und nichtssagend. Bei Anna Seghers zum Beispiel fällt ihm außer einer Art Wikipedia-Eintrag gar nichts ein, oder spekuliert er etwa auf die herausragende Verfilmung von "Transit", die gerade in den Kinos läuft? Bei seiner Mediengewitztheit wäre ihm das zuzutrauen.

Ästhetische Überlegungen oder so etwas wie analytischen Tiefgang gibt es hier natürlich selten. Es handelt sich um kleine, intelligente Fingerübungen, deren nicht immer vollständig erreichter Zweck Amüsement und ein kurzes Aufmerken ist. Wenn sie glücken, leben diese Vignetten von einem Kolumnenstil, der seine eigene Subjektivität absolut setzt und mit dem sich Enzensberger die aktuellen Magazin- und Hochglanz-Standards zunutze macht. Journalistisch war er immer auf der Höhe der Zeit. Das unterscheidet ihn natürlich gewaltig von seinen Generationsgenossen, das ist ja sein Markenzeichen: Chamäleonartig wandelte er sich vom Erntehelfer Fidel Castros zu einem hedonistischen Konsumenten im entwickelten Kapitalismus. Jetzt zeigt er sich also endlich stilistisch eins mit der "Generation Golf", der er damals so gewitzt den Weg geebnet hat. Im Gegensatz zu den Porträtierten in seinem Buch steht er damit anscheinend für das 21. Jahrhundert, aber ein bisschen abgestanden wirkt das jetzt schon auch.

Hans Magnus Enzensberger : Überlebenskünstler. 99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 366 Seiten, 24 Euro.

© SZ vom 20.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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