Salinger 90 Jahre:Das Geheimnis von Holden Caulfield

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55 Jahre hat er verschwiegen gelebt, und das nach seinem Erfolg "Der Fänger im Roggen". An Neujahr wird der US-Autor Jerome D. Salinger 90 Jahre alt.

U. Schnappauf

Kurioses Motiv: Pferd und Wagen auf dem belebten Times Square in New York. Das Foto des amerikanischen Jazz-Fotografen William Gottlieb von 1947 dokumentiert eine Werbeaktion ganz besonderer Art für ein Jazzkonzert. Es sollte noch am selben Abend am Columbus Circle stattfinden - mit Louis Armstrong und Jack Teagarden.

Ein Bestseller: Der Fänger im Roggen, von J.D. Salinger. Neujahr feiert der Autor seinen 90. Geburtstag. (Foto: screenshot: amazon.de)

Auf dem Pferdewagen am Klavier sitzt Art Hodes, ein bedeutender Oldtimejazz- und Blues-Pianist, der so schwarz spielen konnte wie kein anderer Weißer. So auf Sidney Bechets legendären "When the Saints"-Sessions zwischen 1945 und 1949 für das Label Blue Note. Wer die anderen Musiker in den Phantasieuniformen auf dem Pferdewagen sind, lässt sich nicht sagen.

Gottliebs Foto erzählt, wenn auch unabsichtlich, eine weitere Geschichte. Wer genauer hinschaut, kann eine aufregende Entdeckung machen. Links ist die Reklame-Markise eines Kinos ins Bild geraten: WILLIAM HOLDEN JOAN CAULFIELD DEAR RUTH. Im Klartext: William Holden und Joan Caulfield spielen die Hauptrollen in dem Film "Dear Ruth". Die Nachnamen deutlich größer als die Vornamen, auf der Frontseite der Markise sogar nebeneinander gestellt, ergibt das: HOLDEN CAULFIELD.

Das ist seltsamerweise auch der Name des Ich-Erzählers in Jerome David Salingers Roman "The Catcher in the Rye" ("Der Fänger im Roggen"). Der 16-jährige Holden Caulfield erzählt, wie es dazu kam, dass er von der Schule flog, wie er durch das vorweihnachtliche New York irrt, wie verlogen er die Welt der Erwachsenen findet und wie er am Ende seiner Krise im Krankenhaus landet.

Der Rückzug des Autors

Nach seinem Erscheinen im Jahr 1951 wurde das Buch zu einem Millionenseller. Es sprach vor allem die Jugend an, aber auch ältere Leser fanden Episoden ihrer Entwicklung in Caulfield wieder. Es wurde zum - hier ist der Begriff wirklich angebracht - Kultbuch vieler Generationen.

Noch heute gehen jedes Jahr 750.000 Exemplare allein in den USA über den Ladentisch. Amerikaner geben ihren Söhnen den Vornamen Holden. Holden Caulfield wurde zur wohl bekanntesten Romanfigur des 20. Jahrhunderts.

Natürlich erregte das Werk auch viele Fragen und zog Literaturwissenschaftler und Schriftstellerkollegen an wie Arthur Mizener, Alfred Kazin, Granville Hicks, Maxwell Geismar und John Updike. Dem Autor wurde der Rummel zu viel. Salinger zog sich 1953 aus der Öffentlichkeit zurück und lebt seither in dem Flecken Cornish in New Hampshire. Am 1. Januar 2009 wird er 90 Jahre alt.

Jahrzehnte hindurch hat der Eremit Anfragen zu Person und Werk immer abgewiesen. Auch die, was es mit dem Namen Holden Caulfield auf sich hat. Ob es sich bei dem Vornamen eventuell um den Nachnamen des Schauspielers William Holden handeln könnte, aus vielen berühmten Filmen wie Billy Wilders "Sunset Boulevard/Boulevard der Dämmerung", "Stalag 17" oder "Sabrina" bekannt.

Es war abzusehen, dass Salinger seine scheue Zurückhaltung nicht konsequent durchhalten würde. Das geschah zwei-, dreimal. In einem Fall begann er eine Korrespondenz und dann eine Affäre mit einer Studentin namens Joyce Maynard. Sie zog für ein Jahr zu ihm. Über ihre Gespräche mit ihm sollte sie schweigen und seine Briefe nie herausgeben. Aber die Beziehung zerbrach.

Irgendwann brauchte die einstige Freundin Geld und brach das Versprechen. In ihrem Buch "At Home in the World" (1998, deutscher Titel "Tanzstunden") über ihre Zeit mit Salinger bestätigt sie: Er hat den Namen von einer New Yorker Kinowerbung. Es könnte die in Gottliebs Foto gewesen sein. Warum sollte der New Yorker Salinger nicht 1947 am Times Square spaziert sein? Eine schöne Pointe.

Ist sie aber nicht. Den Namen Holden Caulfield hat Salinger nämlich bereits in vier, fünf Erzählungen verwendet, die vor 1947 entstanden (später aber vom Autor zurückgehalten wurden). Insofern stellt seine Aussage gegenüber der Studentin eine Ungereimtheit dar. Aber William Holden war ein seit 1939 durch den Film "Golden Boy" (mit Barbara Stanwyck, nach Clifford Odets Bühnenstück) der ganzen Nation vertrauter Name.

Und Joan Caulfield war ein ebenfalls weithin bekanntes Model von ungewöhnlicher Schönheit. 1943 begann Joan Caulfield eine Bühnenkarriere. 1947 drehte sie ihren ersten Film. Salinger, berichten Freunde, betete sie an und sammelte jahrelang Fotos von ihr. Holden und Caulfield zusammenbringen, dazu bedurfte es nicht viel.

© SZ vom 30.12.08/jja - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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