Sachbuch:Wie viele Pappbecher gibt es bei McDonald's?

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Von Hexern und Hausmädchen: Marcus du Sautoy schreibt den Groschenroman der Zahlentheorie.

Von Ulrich Kühne

Freunde der Kriminalliteratur wissen, dass sie zumeist erst auf der letzten Seite erfahren, wer der Mörder ist. Bis dahin wird der Autor seine Leser mit falschen Fährten verwirren, und, wenn er nur skrupel- und einfallslos genug ist, wird es letztlich immer das Hausmädchen gewesen sein.

Auch in der Geschichte der Zahlentheorie wurde das schlimmste Verbrechen von einem Hausmädchen begangen: Als Bernhard Riemann 1866 auf einer Urlaubsreise in Italien unerwartet mit 39 Jahren starb, nutzte sein Hausmädchen daheim in Göttingen die Gelegenheit, endlich einmal sein Arbeitszimmer gründlich aufzuräumen.

Viele Schmierzettel von Riemann landeten im Küchenfeuer, bevor das Mädchen endlich von einer Abordnung der Göttinger Universität in ihrem Frevel gestoppt wurde. In den Aufzeichnungen, die gerettet wurden, fanden sich manche Perlen. Noch sechzig Jahre nach Riemanns Tod gelang es dem norwegischen Mathematiker Atle Selberg, aus der krakeligen Handschrift eine bis dahin unbekannte Formel zur numerischen Berechnung von Nullstellen der Zeta-Funktion zu entziffern.

Zahlentheorie für Laien

Die Geschichte der Zahlentheorie, die um die bis heute erfolglos gebliebenen Bemühungen kreist, die berüchtigte Riemann-Hypothese zu beweisen oder zu widerlegen, hat Marcus du Sautoy für ein Laienpublikum aufgeschrieben.

Die Aufgabe ist gewaltig, denn die Riemann-Hypothese gehört zu den fortgeschrittenen Themen der höheren Mathematik, und ist vielleicht nur deshalb in das Interesse der breiten Öffentlichkeit geraten, weil die Stiftung des amerikanischen Unternehmers Landon Clay sie vor ein paar Jahren zu einem von sieben großen Problemen der Mathematik erwählt hat, für deren Lösung ein Preisgeld von je einer Millionen Dollar ausgeschrieben wurde.

Du Sautoy ist Mathematikprofessor der Universität Oxford, er hat selbst über den Gegenstand geforscht, auch wenn er über seine eigene Arbeit in dem Buch diskret schweigt. Er ist Fellow des renommierten All Souls College, Mitglied der Royal Society; er hat viel Erfahrung mit dem Verfassen populärwissenschaftlicher Beiträge. Kürzlich wurde er übrigens vom Esquire zu einem der hundert attraktivsten Männer unter 40 gewählt, neben Leuten wie David Beckham und Robbie Williams.

Die Riemann-Hypothese besagt, dass der Realteil aller nichttrivialen Nullstellen der Riemannschen Zeta-Funktion gleich 0,5 ist. Für die Zahlentheorie ist diese Annahme interessant, weil sich hierdurch Aussagen über die Verteilung der Primzahlen unter den natürlichen Zahlen ableiten lassen, sich also so etwas wie eine harmonische Ordnung in der scheinbar chaotischen Zahlenfolge 2, 3, 5, 7, 11, ... entdecken lässt.

Und beiläufig kann man erwähnen, dass mittlerweile das Wissen über die Primzahlen eine beträchtliche volkswirtschaftliche Bedeutung erlangt hat, weil hieraus die wichtigsten Verschlüsselungs- und Authentifizierungsmethoden von Bank- und Internetgeschäften hervorgegangen sind, und es nicht auszuschließen ist, dass zukünftige Erkenntnisse über Primzahlen die bisher gebräuchlichen Methoden kompromittieren.

Harmonie der Primzahlen

Offensichtlich bedarf es eines großen Aufwands, die Riemann-Hypothese einem mathematischen Laien verständlich zu machen. Dazu muss man beispielsweise erklären, dass die Riemannsche Zeta-Funktion eine analytische Erweiterung der Eulerschen Zeta-Funktion in den komplexen Zahlenraum darstellt, was Ausführungen über Themen wie "analytische Erweiterung", "Eulersche Zeta-Funktion", "komplexer Zahlenraum" und einiges mehr erfordert. Da aber Primzahlen das eigentliche Thema sind, sollte man auch anfügen, dass die Zeta-Funktion überhaupt etwas mit Primzahlen zu tun hat.

Dazu müsste man zumindest die Primzahlzerlegung der Zeta-Funktion vorführen, wofür allerdings, wenn diese Rechnung einen skeptischen Leser überzeugen soll, einige weitere Ausführungen über die Eigenschaften von Primzahlen, insbesondere über die Eindeutigkeit der Primzahlzerlegung erforderlich sind.

All dieses ließe sich wohl noch in Grundzügen für einen normalbegabten Leser verständlich machen. Bei du Sautoy findet sich jedoch nichts dergleichen. Selbst die wenigen Teilstücke, die sich ganz ohne Tiefsinn und Komplikationen erklären lassen, wie etwa die Idee der "imaginären Zahlen", lässt du Sautoy lieber in einem metaphysischen Gewölk von Geniekult und Wahnsinn verschwinden.

"Manche sagen," schreibt du Sautoy, "allein dass er die Möglichkeit solcher Zahlen zulässt, unterscheidet den Mathematiker vom Rest der Welt. Es bedarf schon eines kreativen Sprungs, um in diesen Teil der mathematischen Welt vorzudringen. ... Hier scheint der Schlüssel für die subatomare Welt des zwanzigsten Jahrhunderts zu liegen. Und man könnte sogar behaupten, dass unsere Flugzeuge kaum vom Boden abheben würden, wenn die Ingenieure nicht willens wären, eine Reise durch die Welt der imaginären Zahlen zu machen."

Der Bogen von Euklid bis ins Forschungsinstitut

"Die Musik der Primzahlen" behandelt eine weit größere Stoffmenge. Tatsächlich spannt du Sautoy einen Bogen von Euklid bis zu den aktuellen Erkenntnissen mathematischer Forschungsinstitute. Als Früchte ihres Scheiterns an der Riemann-Hypothese haben große Mathematiker sie in den vergangenen 150 Jahren mit allen möglichen entlegenen Theorien verknüpft, von der Informatik bis zuletzt gar der Quantenphysik.

Ausgehend von der Riemann-Hypothese öffnet sich ein Ausblick in weite Bereiche der aktuellen mathematischen Forschung. Indem du Sautoy darüber schreibt, findet er noch reichlich Platz, die ungezählten Schrulligkeiten seiner Protagonisten zum Besten zu geben.

Du Sautoy versündigt sich an so ziemlich jedem Gebot für Sachbuchautoren; er schwelgt in missratener Metaphorik, sinnlosen Superlativen, abseitigen Anekdoten, inhaltsleeren Introspektionen. "Er zögerte nicht, in die entferntesten Bereiche des Abstrakten vorzustoßen", heißt es über einen Mathematiker. Ein anderer "fühlte sich wie in einem Wurmloch, das ihn aus der abstrakten Welt der komplexen Funktionen in die Welt der Primzahlen führte".

Du Sautoy verwirrt seine Leser mit überflüssigen Synonymen; was völlig verständlich als "Nullstelle" vorgestellt wird, heißt im nächsten Satz plötzlich "Punkt auf Meereshöhe". Die Mathematik, muss der Leser unweigerlich glauben, führt die Geschwätzigkeit zur höchsten Verfeinerung, macht aus Mystik eine Wissenschaft und besitzt mehr Heilige Grale als McDonald's-Pappbecher.

Das Buch ist schlecht. Tatsächlich ist es so schlecht, dass es schon wieder gut ist. Wer je den Verführungen der Schundliteratur erlegen ist, ganze Nächte lang Krimis und billige Trivialromane verschlungen hat, wird von du Sautoy begeistert sein. Kaum hat der Leser aufgegeben, du Sautoy verstehen zu wollen, wird er von der Dramatik und Komik der Geschichte weggerissen, fiebert nach immer größeren Heldentaten und schlimmeren Abartigkeiten im Plot.

Die Konkurrenz der Groschenromane übertrifft du Sautoy an Ideen- und Actionreichtum um Längen, wenngleich vielleicht nur deshalb, weil seine Erzählung als dramaturgische Ausschmückung einer in wesentlichen Teilen wahren Geschichte durchgehen darf. Und falls sein Buch dazu beiträgt, Hochachtung und Ehrfurcht vor der Kulturleistung der Mathematik, die jede ideelle und materielle Unterstützung durch die öffentliche Hand verdient hat, zu vergrößern, darf man es als eine erfreuliche Neuerscheinung ansehen.

MARCUS DU SAUTOY: Die Musik der Primzahlen. Auf den Spuren des größten Rätsels der Mathematik. Deutsch von Thomas Filk. C. H. Beck Verlag, München 2004. 399 Seiten, 23,23 Euro.

© SZ vom 12.10.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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