Richard Dawkins:Es bleibt das Gen

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Warum hat die Kuh vier, ein Melkschemel nur drei Beine? Er ist der Großmeister der Evolutionstheorie im 20. Jahrhundert, nun hat Richard Dawkins seine Autobiografie geschrieben. Er hat auf nicht alles eine Antwort.

Von Burkhard Müller

Der Typus des Großwissenschaftlers als öffentlichkeitswirksame Persönlichkeit ist im Rückzug begriffen. Als einer der Letzten dieses Stammes präsentiert sich Richard Dawkins, seines Zeichens Evolutionsbiologe, kämpferischer Atheist und Star des angelsächsischen Fernsehens, der bei seinen Vorträgen komplette Stadien selbst im feindlich gesinnten amerikanischen Mittelwesten füllt. Wenn Dawkins, 75, seine Autobiografie vorlegt, mit mehr als 700 Seiten das umfänglichste seiner vielen Bücher, darf man gespannt sein.

Kindheit und Jugend fallen in die Zeit des noch bestehenden, aber schon absteigenden britischen Empire. Dawkins verbringt seine ersten Lebensjahre im südlichen und östlichen Afrika, inmitten einer überwältigenden Natur und der Selbstverständlichkeit schwarzen Dienstpersonals: ein verlorenes Paradies. Nach England zurückgekehrt, leidet er unter dem schlechten Wetter und der Ärmlichkeit der Nachkriegszeit, vor allem aber unter dem offenbar unumgänglichen englischen Internaten mit ihrer Kälte in jederlei Hinsicht.

Als direkte Verlängerung solch kasernierter Bildung stellt sich dem jungen Studenten dann auch das Balliol College in Oxford dar - und dieser Typ von Wissenschaft, in dem ein kauziger Korpsgeist und intensive Kollektiv-Neugier die Schlüsselrolle spielen, wird Dawkins für sein ganzes szientifisches Leben prägen. Besonderes Vergnügen bereitet es ihm, davon zu berichten, wie er später, schon als Professor, an den Aufnahmeprüfungen teilnimmt, mit denen Oxford sicherstellt, dass es nur den allerintelligentesten Nachwuchs rekrutiert. Fragen, die er sich ausdenkt, lauten etwa: Warum hat eine Kuh vier Beine, ein Melkschemel aber nur drei? Oder: Warum vertauscht ein Spiegel links und rechts, aber nicht oben und unten?

(Foto: Daniela Wiesemann)

Zu Dawkins' persönlichem Mentor wird der niederländische Verhaltensforscher Nikolas Tinbergen. Unter seinem Einfluss beginnt Dawkins damit, einfallsreiche Experimente zum Instinkt der Tiere durchzuführen, wobei er an vorderster Pionierfront der jungen Computer-Technologie steht. Aber nicht diesen Forschungen verdankt Dawkins seinen Ruhm, sondern einem Buch, das er mit Mitte dreißig vorlegt: "Das egoistische Gen". Es steht natürlich auch im Zentrum der Autobiografie.

Die Dinosaurier leben nach allem, was man heute weiß, nur noch in den Vögeln fort

Darwin (von dem Dawkins niemals ohne den Ausdruck einer fast religiösen Verehrung spricht) hatte es als selbstverständlich angesehen, dass die Selektion, die den Prozess der Evolution voranbringt, am Individuum ansetzt. Das war durchaus logisch, denn das Individuum ist dasjenige Wesen, das aktiv darum ringt, seine Haut zu retten beziehungsweise sich fortzupflanzen. Aber auch das erfolgreiche Individuum fällt schließlich dem Tod anheim, so dass sich die Frage stellte: Wem eigentlich kommt der Prozess der Evolution zugute; was lebt und überlebt zuletzt und streicht den Erfolg ein, wenn das Tier, an dem sich all das vollzieht, dann gestorben ist? Es musste etwas Größeres sein als das einzelne Tier (oder diese einzelne Pflanze) selbst.

Die Gruppe oder Population vielleicht? Dabei handelt es sich, wie Dawkins zu Recht meint, bloß um eine unstete Zusammenballung wie eine Wolke oder einen Sandsturm. Die Spezies? Diese stellt zwar die konkrete Fortpflanzungs-Gemeinschaft dar; aber gerade im Fall der geglückten Anpassung geht sie restlos im neuen Typ, in den anderen Spezies auf, die sich aus ihr hervorentwickeln. Die Dinosaurier leben nach allem, was man heute weiß, nur noch in den Vögeln fort. Sollte man sagen, im Rotkehlchen triumphiere der Saurier?

Hier hatte Dawkins seinen epochalen Einfall: Wenn das, was bleibt, weder das Individuum ist noch etwas Größeres - dann musste man es eben im Kleineren suchen. Was die Generationen einander über den Tod hinaus vererben, ist die genetische Ausstattung - genauer, da das Genom insgesamt bei jedem Fortpflanzungsakt unberechenbar durcheinandergewirbelt wird: das einzelne Gen. Es stirbt nie. Folglich stellt das Gen das eigentliche Subjekt der Evolution dar. Es benutzt das Tier, in dem es sitzt, als seine "Wegwerf-Überlebensmaschine", von der es nach dessen Tod umsteigt in die nachfolgende Generation. Mit den zahlreichen anderen und fremden Genen, die sich in denselben Körper teilen, muss es sich freilich vertragen; es muss kooperieren wie der einzelne Ruder im Achter, der nur dann am Sieg teilhat, wenn er seine Kameraden unterstützt.

"Warum haben Sie so hässliche Tiere auf Ihrer Krawatte?", fragt ihn die Queen

An dieser Stelle muss der Rezensent etwas ausholen, um zu erklären, warum er diese ebenso umjubelte wie umstrittene Theorie für falsch hält. Zum Ersten "kämpfen" Gene nicht, wie die Individuen es doch bestimmt tun, sondern sitzen in auswegloser Untätigkeit in dem Körper fest, in den sie die Geburt verschlagen hat. Schwerer ins Gewicht fällt, dass das Gen keine fest umrissene Einheit bildet (wie ein Tier sie hat); es ist einfach ein unbestimmter Abschnitt des Chromosoms. An welcher Stelle dieses beim Vorgang der sexuellen Fortpflanzung durchtrennt und neu verleimt wird, ist nicht vorhersagbar; im Grunde lässt es sich an jeder beliebigen Stelle abreißen wie bei einer Rolle Klopapier eine Sequenz von zehn, fünf oder auch bloß einem Blatt. Das jeweils weitergereichte Gen ist ein Zufallsprodukt ohne jede Gestalt.

Und dann handelt es sich beim Gen, das bei jeder Replikation seiner Materie nach komplett ausgetauscht wird, nicht um ein stoffliches Ding, sondern um eine Matrix, eine Form also. Dass sie dauert, dürfte man eigentlich nur dann behaupten, wenn sie es gänzlich unverändert täte. Tatsächlich aber waltet in ihr, als evolutiver Motor, die Mutation, die dafür sorgt, dass immer wieder kleine Teile ausgetauscht werden - so lange, bis schließlich von der Urmatrix gar nichts mehr erhalten ist. Der höchste Erfolg, der eben in der Transformation vom Bakterium zum Blauwal besteht, beglaubigt sich darin, dass überhaupt nichts mehr da ist, dem man als "Sieger" eine Medaille umhängen könnte. Am unteren Ende des Spektrums der Größenordnungen kommt die Evolutionstheorie bei derselben Verlegenheit heraus wie am oberen, hat nichts vorzuweisen als einen ausdehnungslosen Punkt. Dawkins zieht die Parallele zum Kinderspiel der "Stillen Post" (englisch "Chinese Whispers"), bei dem das Endergebnis keinerlei Ähnlichkeit mehr mit der Ausgangs-Information hat.

Als Belohnung dafür, dass er einer bedrängten Theorie einen scheinbaren Ausweg wies, hat Dawkins alles bekommen, was die Zeitgenossenschaft an Ehrungen zu vergeben hat (den Nobelpreis vorerst ausgenommen). Der zweite Teil mit seinem endlosen Name-Dropping gerät eher langweilig. Selbst bei der Queen ist er zu Gast. Sie richtet das Wort an ihn: "Warum haben Sie so hässliche Tiere auf Ihrer Krawatte?" Es handelt sich um Warzenschweine, die Dawkins' dritte Frau (sein Privat- und Familienleben kommt etwas kurz) eigenhändig für ihn gemalt hat. "Auch wenn ich mich damit selbst lobe: Meine Antwort war dafür, dass sie aus dem Augenblick geboren wurde, gar nicht schlecht. 'Ma'm, wenn die Tiere hässlich sind, wie viel größer ist dann die Kunst, eine so schöne Krawatte herzustellen?'" So etwas zu lesen ist amüsant, nicht zuletzt, weil es nebenher zeigt, wie ungemein eitel dieser Autor ist.

© SZ vom 15.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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