Residenztheater-Premiere:Was nicht zu Ende erzählt werden kann

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Mathilde (Juliane Köhler) und ihre Tochter Fatima (Mathilde Bundschuh) werden gelegentlich von Gespenstern der Vergangenheit heimgesucht. (Foto: Thomas Dashuber)

Amélie Niermeyer wagt in ihrer Inszenierung viel und gewinnt: "Rückkehr in die Wüste" am Residenztheater

Von Eva-Elisabeth Fischer, München

Amélie Niermeyer zieht die Schraube gewaltig an. Sie schreckt vor nichts, aber rein gar nichts zurück. Hatte Bernard Marie Koltès in seinem Stück "Rückkehr in die Wüste" den feinsinnigen, auch melancholischen Witz Tschechows im Sinn, drischt die Regisseurin auf die Komödien-Pauke. Da lässt sie ihre Protagonisten auch schon mal physisch aufeinander los. Schwester und Bruder zumal, um die sich hier ja fast alles dreht, verbeißen sich in ihrem scheinbar unauflöslichen Zwist ineinander wie die Terrier. Das alles ereignet sich auf der Drehbühne im Residenztheater in Alexander Müller-Elmaus Festungslabyrinth mit wandelbaren Räumen und zahllosen Türen. Letztere gereichen als treffliches Symbol für alles, was im Verborgenen geschah und geschieht. Aber auch als Requisit für das in Verwechslungskomödien beliebte "Tür auf -Tür zu".

Niermeyer inszeniert hier nämlich auch turbulenten Boulevard, wie sie eben nicht nur irgendwas, sondern diesmal alles auf einmal inszeniert: die Familientragödie, das Gesellschafts-, Rassen- und Klassendrama wie auch die wohlfeile Kolportage, kreisend um Korruption und Verrat. Dass sie damit nicht baden geht, sondern vielmehr einen triumphalen Erfolg am Residenztheater einfährt, hat dreierlei Gründe: die unvermutet aktuelle Stückvorlage über Herren und Knechte und den Zusammenprall der Kulturen; die kluge Gewissheit, dass in jeder Komödie eine Tragödie steckt; die großartigen Schauspieler und Schauspielerinnen, die vielschichtig auffächern, was zunächst einmal ziemlich eindimensional ausschaut.

"Rückkehr in die Wüste", uraufgeführt 1988, ein Jahr vor dem Tod seines Autors Bernard Marie Koltès, und danach kaum gespielt, sticht in dessen oft rätselhaft verklausuliertem Œuvre als eine mit leichter Hand illustrierte Abrechnung mit seiner Kindheit und Jugend in der Garnisonsstadt Metz hervor. 1961, das ist die Zeit, in der das Stück spielt, war er selbst 13 Jahre alt und damit alt genug, das Ende des Algerienkriegs mitzubekommen ebenso wie die Spannungen zwischen den zugewanderten Arabern und den dünkelbehafteten Bürgern seiner Stadt, Ausbeutern, die sich immer noch wie Kolonialherren benehmen und sich hinter ihrer chauvinistischen Selbstgerechtigkeit verbarrikadieren. Leidtragende auf beiden Seiten, bei den Unterdrückern wie auch den Unterdrückten, sind zuallererst die Frauen (und damit deren Kinder): als Opfer sexueller Willkür, für die Folgen bestraft und geächtet. Koltès kannte es auch, das Schicksal der Industriellen-Familie Serpenoise, deren (wirtschaftlichen) Aufstieg und Fall er in "Rückkehr in die Wüste" karikiert, womit er nichts anderes meint als die tödliche Ödnis der französischen Provinz. Mathilde also kehrt nach 15 Jahren Exil in Algerien mit ihren beiden vaterlosen Kindern Fatima und Edouard, Früchte zweier Vergewaltigungen, in ihr Elternhaus zurück, um es als Erbin in Besitz zu nehmen. Dort lebt ihr Bruder, der Stahlfabrikant Adrien mit seiner zweiten Frau, einer Trinkerin (die herrlich verhuschte Barbara Melzl), und seinem verweichlichten Sohn Mathieu, den er in seiner Festung gefangen hält ebenso wie seine arabischen Dienstboten. Mathieu, bei Thomas Lettow ein bedauerlicher Tropf mit latentem Gewaltpotenzial, aber will raus, er will lieber im Krieg sterben als seinen Vater beerben.

Adrien prügelt sich mit seiner Schwester nicht um dieses Haus. Adrien ist mitverantwortlich für die Intrige, die Mathilde in die Flucht trieb: Es war wohl bewusste Verleumdung, dass man ihr auch noch vorwarf, es mit einem Deutschen getrieben zu haben und ihr deshalb als Zeichen der Schande, wie nach 1945 üblich, die Haare abrasierte.

Bei ihrer Rückkehr rächt sich die einst vielfach Gedemütigte dafür. Mathilde betreibt das nicht weniger konsequent als Claire Zachanassian in Friedrich Dürrenmatts "Besuch der alten Dame", aber längst nicht so grausam: Sie schert dem Polizeipräfekten, der sie seinerzeit kahlrasierte, tatkräftig ein paar Schneisen in den Grauschopf und lächelt dabei bös. Die großartige Juliane Köhler ist ganz gelassene Genugtuung, unverhohlen süffisant, wie man es von ihr an diesem fulminanten Theaterabend immer wieder sieht. Es ist der Ausdruck einer grundsätzlichen Überlegenheit, die auch die Gespenster der Vergangenheit nicht beeinträchtigen können.

Dagegen kommt der schwächliche Bruder, Götz Schulte, nicht an. Er wird handgreiflich, wenn seine Reden nicht zünden. Und er beugt sich - zunächst seiner unauslöschlichen Liebe zur Schwester, dann der augenscheinlichen Erkenntnis, dass erst die Enkel Erneuerung verheißen: die schwarzafrikanischen Zwillinge, die Mathildes Tochter gebiert. Und der schwarze Fallschirmspringer, der am Ende als Deus ex machina aus dem Bühnenhimmel trudelt. Sowohl Koltès als auch Niermeyer lassen offen, ob darin Hoffnung liegt.

© SZ vom 29.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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