Realismus:Mama in der Flammenhölle

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Gro Dahle: Bösemann. Mit Illustrationen von Svein Nyhus. Aus dem Norwegischen von Christel Hildebrandt. NordSüd Verlag, Zürich 2019. 36 Seiten. 18 Euro. (Foto: Verlag)

Dem Unsagbaren Sprache verleihen. Häusliche Gewalt im Bilderbuch und die Chance, Hilfe zu bekommen.

Von Karin Gruss

"Boj lauscht. Da ist etwas im Wohnzimmer. Das ist Papa. Ist Papa leise? Ist Papa fröhlich? Ist Papa ruhig?" Im Schutze einer Kommode hockt ein kleiner Junge. Mitten im Zimmer ein Mann, hochgewachsen, mit breiten Schultern und riesigen Händen. Sein kleiner Kopf wirkt auf dem massigen Körper viel zu klein. Er blickt freundlich. "Er ist lieb wie die Äpfel auf dem Tisch und die Rosinen in der gelben Schale." Dazwischen die Mutter. Ohne den Boden zu berühren, schwebt sie lautlos lächelnd mit einem prächtigen Kuchen herein. Ein freundliches, ein wohnliches Zimmer - auf den ersten Blick. Bei genauerem Hinsehen züngeln auf der Tapete helle Flammen. Auf der Kommode liegt gefährlich dicht neben dem Goldfischglas ein Hammer, und die Rosinenschale droht von der Tischkante zu rutschen.

Wie viel Realität verträgt ein Bilderbuch? Ist häusliche Gewalt ein Kinderbuchthema? Solange Kinder Opfer und Zeugen häuslicher Gewalt sind, kann die Antwort nur heißen: ja - unbedingt! Bojs Sinne sind in höchster Alarmbereitschaft. Er spürt, "wie sich etwas in ihm zusammenzieht," und "das ganze Wohnzimmer ist aus Glas". Mama nimmt den zitternden Jungen auf den Schoß und zieht sich mit ihm in eine Zimmerecke zurück. Riesengroß und übermächtig quillt Papas Körper aus dem Sesselpolster hervor. Seine Stimme ist nicht mehr freundlich, sie hat kleine Spitzen und scharfe Ränder.

Boj kennt diese Stimme. Sie ist die Tür zu einem dunklen Keller in Papa, und "da erhebt sich jemand. Das ist Bösemann, der die Leiter aus Rippen hochklettert. Das ist Bösemann, der raus will."

Gro Dahle und Svein Nyhus lassen die Vaterfigur parallel zur Bedrohung wachsen. Mit wutverzerrtem Gesicht, aggressiv vorgeschobenem Oberkörper und zum Schlag bereiten Händen bricht sich Bösemann wie eine Feuersbrunst Bahn. "Bleib in deinem Zimmer, Boj", ruft Mama ihm aus der Flammenhölle zu. Der Junge hat Angst um seine Mama. Alles um ihn herum brennt, und niemand kommt, um zu löschen. Boj hört Mama rufen und weinen. Bestimmt hat Boj etwas Falsches gesagt. Er war nicht artig genug. Er hat Schuld ...

Kinder reagieren auf Bedrohung einer Bezugsperson manchmal stärker als auf Gewalt, die gegen sie selbst gerichtet ist. Angst und Loyalitätskonflikt setzen ihr Selbstschutzsystem außer Kraft und führen zur Verinnerlichung des Gewaltgeschehens. Wenn sie keine Worte haben, das Erlebte wiederzugeben, kommt es oft zu Entwicklungsstörungen und emotionaler Isolation.

Die Folgen der Zerstörungswut zeigen sich auch bei Boj. Bösemann hat sich wieder in den dunklen Keller verzogen, aber Papa ist noch da. Er will Boj in den Arm nehmen. Doch Boj will nicht in den Arm genommen werden, nicht von Papa und auch nicht von Mama. Er will nur noch hinaus. Draußen ist die nette Dame mit dem weißen Hund. "Geht es dir gut?, fragt sie." Bojs Mund ist wie zugeklebt; die Worte können nicht hinaus. Aber als Boj mit dem Hund unter dem Baum sitzt, sprudeln die Worte endlich aus ihm heraus.

Das Buch leistet einen realitätsnahen und hilfreichen Beitrag zur Bewältigung kindlicher Ohnmachtserfahrung, indem es in Wort und Bild dem Unsagbaren eine verständliche Sprache verleiht. Es ermöglicht Gespräche, die Kindern endlich Gehör verschaffen. (ab 5 Jahre)

© SZ vom 07.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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