Rauschenberg-Ausstellung in München:Im Schutt der Industriegesellschaft

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Er beschmierte Pappkartons mit Klebstoff, wälzte sie im Sand und umwickelte sie mit Gaze. Das Münchner Haus der Kunst zeigt Robert Rauschenbergs Arbeiten nach 1970, die Zeit seiner Pappkarton-Liebe.

Willibald Sauerländer

1970 - das war keine unbeschwerte Zeit in Amerika, eher ein Moment der Enttäuschung, manchmal auch des desillusionierten Zynismus, der Flucht in die Drogen, die wilden Parties. In Washington regierte Richard Nixon, der Sumpf des Vietnamkrieges wurde jeden Tag tiefer, das Pathos der Protestbewegungen erstarrte in Bitterkeit. Die Künste hatten ein aufregendes Jahrzehnt des Experimentierens hinter sich. Pop-Art und Happenings hatten den Alltag in die Kunst geholt und über die Kunst den Alltag verändert. Happenings und Proteste waren oft kaum zu unterscheiden. Das Epizentrum dieses die ganze westliche Welt erschütternden Bebens war New York.

Für "Erased De Kooning" verbrauchte Rauschenberg 15 Radiergummis. Damit löschte er eine farbige Zeichnung Willem de Koonings mit dessen Einverständnis aus. (Foto: Foto: oH)

1970 aber hatte dieses anarchische Treiben seinen Höhepunkt überschritten. Die Pop-Art begann dem Glamour zu erliegen. Längst waren neben ihr kühlere Richtungen auf die Bühne getreten wie Op- und Minimal-Art, hatten die "Land Artists" die Flucht in die Wüste angetreten. In der Geschichte der "Zweiten Moderne" war 1970 eine Bruchstelle.

Robert Rauschenberg war damals 45 Jahre alt. Seit 1955 war er eine Schlüsselfigur der New Yorker Szene gewesen, ja ihr phantasievollster Katalysator. Er stammte aus Texas, hatte 1949 am Black Mountain College in North Carolina bei Joseph Albers, einem noch ganz von der Tradition des Bauhauses geprägten Lehrer, begonnen. Albers' emotionsloser Purismus hatte den jungen Amerikaner bleibend beeindruckt. Aber im gleichen Jahr war er nach New York gegangen. 21 Jahre hatte er dort in wechselnden Ateliers gearbeitet.

Spurensucher der Industriegesellschaft

Als eine Art ästhetischer Vagabund erregte er bald Aufsehen. Wie kein Zweiter demontierte er den Mythos vom prometheischen Künstler. Er erklärte: "Ich habe kein Ziel. Ich will in meine Malerei ganz gleich welche Gegenstände des Lebens integrieren." So probierte er alle Techniken und Verfahren aus, von den Blaupausen bis zu den Siebdrucken. Oder er sammelte einfach herumliegende Dinge auf. Er wurde zum Spurensucher auf den Schutthalden der Industriegesellschaft. Seine Bilder hießen "Currents", "Prowler", "Collection" oder "Rebus". Er kommentierte: "Es ist völlig uninteressant, ob ich sie mache. Ihr Schöpfer ist das Heute (Today)."

Seine "Combines" aus tropfenden Farben, Fundstücken, Stoffen, Holz und Zeitungen sollen keinen eindeutigen Sinn ergeben. Das Kunstwerk als ein geordneter Mikrokosmos, was für eine abgestandene, professorale Idee! Rauschenbergs Arbeiten tun so, als ob sie sich dem Zufall verdanken, sehen wie Ablagerungen erodierender Erinnerungen aus. Er war der ästhetische Archivar des "Junks".

Aber wenn seine "Combines" keine Bedeutungsträger mehr waren, so hieß das noch lange nicht, dass sie keinen Witz besaßen. Dieser Spurensucher war ein ikonographischer Clown. Seine Combine "Odaliske" von 1955/58 war nur eine alte, schmuddelige Kiste, deren Wände er unter anderem mit den vergilbten Reproduktionen weiblicher Aktfiguren beklebte, während oben auf ihr krähend ein geiler Hahn stolzierte. Konnte man sich eine burleskere Parodie der trivialen Omnipräsenz erotischer Bilder einfallen lassen?

Aber in den Sechzigern ging es dann ernster und düsterer zu. Die Lithographie "Earth Day" versammelte Aufnahmen von den abgeholzten Wäldern, den neuen Highways, den weggeschmissenen Konservendosen, und auf einem Poster liest man: "Wegbleiben. Verseuchtes Wasser."

Der subtilste Ort des Zerfalls

"New York ist ein Labyrinth von unorganisierten Erfahrungen, das vom Unerwarteten bevölkert wird", erinnerte er sich 1974. Vier Jahre zuvor hatte er selbst dieses Labyrinth verlassen und seinen Arbeitsplatz nach Captiva, auf eine Insel vor der Westküste Floridas, verlegt. Wieder die Bruchlinie 1970! In den nächsten Jahren werden seine Arbeiten konzentrierter, hermetischer, kontemplativer. Das Spektrum der aufgefundenen Materialien wird schmäler: Pappkarton, Sand, Stoffe. Er ist viel auf Reisen. Immer wieder hält er sich in Venedig auf, dem subtilsten Ort des Zerfalls. In Israel entdeckt er die Wüste, und in Indien sind seine Fundstücke farbig schimmernde Textilien.

Auf der nächsten Seite: Die sensiblen Werke aus "Travelling", der Zeit der Reisen.

Es ist eine sozial distanzierte, zurückgezogene Ikonographie. Sie passte nicht recht in das Bild, das man sich in der "Szene" bis dahin von Rauschenberg gemacht hatte. Man musste lernen, die leiseren Töne zu vernehmen. Die Werke, welche Rauschenberg in der ersten Zeit auf der Insel beschäftigten, haben bisher kaum im Zentrum der kritischen Aufmerksamkeit gestanden.

Hier setzt die Ausstellung im Haus der Kunst an. In drei Sälen im Obergeschoss versammelt sie unter dem schweifenden Titel "Travelling" Arbeiten aus den Jahren 1970 bis 1976. Diese sind mit großer Sensibilität, mit einer graziösen Ausgewogenheit in den hellen Räumen präsentiert. Es gibt kaum etwas Lautes, Anarchisches. Aber wenn man sich auf die stumm beredten Dinge einlässt, ihrer schwebenden Metaphorik nachgeht, gewinnen sie eine seltene Eindringlichkeit.

Nie hat Rauschenberg Materialien nur verwendet, immer hat er mit ihnen zusammengearbeitet. Als er Manhattan verlassen hatte, konzentrierte er sich zunächst auf ein ganz stumpfes, glanzloses, ausdrucksarmes Material: Pappkartons. Er kippt sie, schichtet und klebt sie übereinander, manchmal zerknüllt er sie auch. Man kann die gestempelten Aufschriften lesen: "National Spinning Co" oder "Burlington Glass Fabrics". Es war ein Material, das man überall finden konnte: die Überbleibsel des Warenverkehrs. Während die Pop-Art mit den bunten Verlockungen der Konsumgüter spielte, zeigt Rauschenberg nur den Versandmüll. Aber in der sozialen Ikonographie Amerikas hängen an diesem tristen Material noch andere Erinnerungen. Mit diesen weggeworfenen Pappkartons deckten sich nachts die Obdachlosen zu, die "Homeless People".

Ein wortkarg gewordener Clown

Ab 1972 wendet sich Rauschenberg einem Projekt zu, dem er den Namen "Early Egyptian", "Frühes Ägypten", verleiht. Er beschmiert Pappkartons mit Klebstoff, wälzt sie im Sand oder umwickelt sie mit Gaze und türmt sie übereinander, als seien es Pylonen aus Basalt. Der Künstler, der sich zehn Jahre zuvor ganz auf das Flüchtige und Zufällige eingelassen hatte, spielt mit der Erinnerung an das Ewige und Monumentale, aber diese Tempeltürme und Granitblöcke sind nur Attrappen aus Pappe. Man trifft noch einmal auf Rauschenberg den Clown, aber der Clown ist wortkarg geworden.

Höhepunkt dieses Spiels ist die "Pyramid Series". Nebeneinander hängen sieben Tafeln aus geschöpftem Papier, auf denen sich fast unsichtbar am unteren Ende der Umriss einer Pyramide abzeichnet. Es sind die zu einem Dreieck gefalteten Gaze-Bahnen Papier, die sich in diesen Konturen durchdrücken. Deren Enden hängen nach unten schräg hervor, als ob die steinernen Grabhügel gleichsam ausrinnen würden. Das Monumentale verflüchtigt sich zu Papier und Textilien.

Gegenpol zu den "Early Egyptians" sind die "Venetians". Nie zuvor war Rauschenberg so leicht und anmutig gewesen, war seine Metaphorik so witzig wie in dieser Serie. Venedig ist die Stadt ohne Autos. Mit einem aufgehängten Autoreifen spielt der Künstler auf den geschweiften Umriss der venezianischen Gondeln an. Die Materialien, welche er in der Serenissima findet, sind Stoffe, Kissen, Vorhänge, Sonnenschirme, Glas. Und dann ist da das Wasser. Eine Arbeit mit dem Titel "Sor Aqua" zeigt unter einer metallenen Wolke eine entzückende kleine Badewanne, in deren Wasser eine Glasflasche schwimmt.

Kulisse für das Zufällige

Der kostbarste Materialfund Rauschenbergs waren jene schimmernden Seidenstoffe, welche er 1975 im indischen Ahmadabad fand. Der Spurensucher hatte die Schutthalden der Industriegesellschaft verlassen und staunte über die leuchtenden Farben dieser von Hand gefertigten Gewebe. Sie beflügelten ihn zu einer weiteren Serie, die er "Jammer" taufte. In der neuen Serie gibt es keine Bilder mehr, keine Ikonographie. Hier leuchten nur noch die Farben.

Das schönste unter diesen Seidenstücken heißt "Mirage" (Luftspiegelung, Illusion). Das Flüchtige geht nun ganz im ästhetischen Glanz auf. Aber man muss den seidigen Schimmer der "Jammers" in Spannung zu den Müllhalden der Industriegesellschaft sehen. Die "Jammers" waren die extremste Situation von Rauschenbergs Rückzug aus dem Labyrinth New York im Scheidejahr 1970.

Es hat seinen eigenen Reiz, diesen flüchtigen Materialfunden im Münchner "Haus der Kunst" zu begegnen. Das Gebäude, an dem alles falsche Monumentalität ist, wird zur Kulisse für das Zufällige. So ist diese intelligente Ausstellung auch ein Stück Geschichtstheater. Zu bedauern ist nur das Fehlen eines hauseigenen deutschsprachigen Kataloges, der den Besucher über Rauschenbergs "Witz" aufklären würde.

Robert Rauschenberg. Travelling. München, Haus der Kunst, bis 7. September. Tel.: 089 21127-113.

© SZ vom 13.05.2008/ehr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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