Radiosender im Internet:Die Welt aus dem Toaster

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Bullerbü, Babylon und Bärbel Schäfer: Eine junge Gründergeneration experimentiert auf Radiosendern im Internet mit Sounds und prominenten Namen.

Simon Feldmer

Das Tor zur Welt ist nicht größer als ein Toaster. Stephan Nöthen sitzt vor einem grauen Kasten, der aussieht wie ein ganz normales Radio, ein bisschen retro vielleicht. Doch damit zappt sich der Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung der Terratec Electronic GmbH mit der Fernbedienung durch eine Welt von 14 000 Radiosendern, vom kleinen amerikanischen Studentenradio bis zum Deutschlandfunk, von Virgin Radio bis zum Mallorca-Kanal Das Inselradio.

Neue Möglichkeiten: Im Internet tummeln sich tausende experimentierfreudige Radiosender. (Foto: Foto: istockfoto.com)

Nach Ländern, Musikrichtung oder Themengebieten ist das Angebot auf dem kleinen Display am Gerät sortiert. Die Lieblingskindersendung als Podcast, die Tagesschau im Radio zum Abruf, die eigene MP3-Musiksammlung - alles ist über wenige Schritte im Menü zu erreichen.

Seit etwa fünf Jahren entwickelt Terratec Internetradios, in Nettetal, 50 Kilometer westlich von Düsseldorf, direkt an der niederländischen Grenze. Ein großes Windrad steht auf dem Gelände, die Hühner laufen über den Firmenhof. Ob Internetradios, die sich über DSL-Kabel oder WLAN in die globale Radiowelt einklinken, auch irgendwann zum Massengeschäft taugen, darüber kann auch Nöthen nur spekulieren.

Maximal eine Million WLAN-Radios sind bisher im deutschen Markt, schätzen Experten. Genaue Zahlen hat keiner. Neben Philips und Sonos sind es vor allem kleine Elektronikanbieter, die sich in dem neuen Markt tummeln. Zur Internationalen Funkausstellung (IFA) in Berlin Ende August wurden zahlreiche Neuentwicklungen präsentiert - Internetradios mit iPod-Anbindung, kleine Netzwerkspieler, die man einfach an die Stereoanlage ansteckt, um dort ohne Computer Internetradio zu hören, oder digitale Küchenradios.

Denn das Radioangebot im Netz ist so gewachsen, dass es kaum zu durchdringen ist. Daher gibt es Dienste, die sich wie das Portal radio.de bemühen, die Orientierung im virtuellen Radiogarten zu erleichtern. Bernhard Bahners, Marketingleiter bei radio.de, ist sich sicher: "Die Radioindustrie steht mittelfristig vor einem großen Umbruch, der jetzt große Chancen mit sich bringt: mehr Programmvielfalt, zielgruppenspezifische Angebote, die Verlängerung der Reichweite sowie innovative Formen der Vermarktung."

Das glaubt auch Jan Höffken. Der Leiter Forschung und Entwicklung der Radioholding Regiocast, in der mehr als zwanzig private Radioveranstalter ihre Aktivitäten bündeln, sagt: "Wir müssen dem Hörer hinterher. Und der hält sich zunehmend im Internet auf." Regiocast sendet seit dem 13. August mit dem Fußballsender 90elf im Netz. Dort laufen alle Spiele aus der ersten und zweiten Fußball-Bundesliga live und kostenlos - mit recht massenkompatiblem Rahmenprogramm. Höffken sagt: "Der Artenschutz im Nationalpark UKW ist bald vorbei." Da mache man sich lieber selbst Konkurrenz, bevor es andere machten.

radio.de-Macher Bahners ist Angestellter der Verlagsgesellschaft Madsack (Hannoversche Allgemeine). Neben dem Zeitungsgeschäft ist Madsack an zahlreichen privaten Radiosendern beteiligt. Die virtuelle Abspielstation radio.de arbeitet sozusagen auch gegen das eigene Kerngeschäft, in dem sie Hörer zu neuen Radiosendern hinführt, die nicht zur eigenen Verlagsgruppe gehören. Mehr als 1500 Kanäle sind bisher über radio.de zu erreichen. Fast täglich kommen neue dazu. Radio.de existiert seit März, an die 500 000 Unique User, also Menschen, die immer wiederkommen, zählt die Web-Abspielstation mittlerweile im Monat.

Anarchie im Netz

Auch in Hamburg glauben viele an die Radiozukunft im Netz. Klickt man auf www.byte.fm, möchte man sich diese Zukunft auch wünschen. Auf ByteFM ist viel von Beat und Bass die Rede, von Sounds, die durch die Luft schwirren und Tönen, die sich bewegen wie Athleten bei Olympischen Spielen. Von Bullerbü nach Babylon heißt eine Sendung des Hamburger Senders, in der Moderator Jan Möller angenehm leise über seine Musik spricht, die er Jazz-Tech, Pop-Hop, Dub-Wop oder Rock-Step nennt.

Möllers Mix ist so eigenwillig wie emotional. Vor allem ist er das, was private wie öffentlich-rechtliche Sender mit formatierten Inhalten schon lange nicht mehr sind: Er ist besonders. "Macht alle eure Geräte an, die ihr habt, eure Lautsprecher, eure Internetradios, damit ihr hört, was sich für ein Sound aufbaut", sagt Möller seinen Hörern. Es werden mehr, langsam, aber sicher.

Eine gewisse Anarchie klingt da durchs Netz. Nicht nur bei ByteFM. Ähnlich wie Mitte der achtziger Jahre, als private Radiosender den öffentlich-rechtlichen Platzhirschen ihr Monopol streitig machten, entsteht eine Gründerwelle. Wer schon vergessen hat, dass Radio mehr bieten kann als Chart-Gedudel, "die besten Hits aller Zeiten", Blitzermeldungen und lustige Morning-Show-Moderatoren, wird sich wundern, was er übers Netz alles zu hören bekommt. Die Kanäle und Plattformen heißen laut.fm, last.fm, Soulsender, Flavour Mix - dazu kommt eine Myriade Klein- und Kleinstanbieter aus der ganzen Welt. Im Internet sprengt das Radio längst seine regionalen Grenzen.

Das Ziel: 24 Stunden am Tag vernünftige Musik

Auch klassische Radioanbieter können profitieren. "Unsere Abrufzahlen im Internet haben sich zuletzt verdoppelt und verdreifacht", sagt Dietmar Timm, Leiter Zentrale Aufgaben/Multimedia beim Deutschlandradio. Die ARD-ZDF-Onlinestudie bezifferte die Zahl der Menschen, die zumindest gelegentlich Radio über das Internet hört, zuletzt auf 9,9 Millionen. Für Kreative wird das Netz immer mehr zu einer neuen Chance, am Radiomachen wieder Spaß zu haben.

Ruben Jonas Schnell, Moderator des NDR-Nachtclubs, ist einer von ihnen. Im Januar startete der 40-jährige Hamburger Musikjournalist ByteFM. An die 7000 Hörer schalten täglich ein. Das ist nicht viel. Doch die Hörerzahlen steigen, das Programm wächst. Fast 70 Moderatoren, unter ihnen bekannte Radiomacher wie Klaus Fiehe von Eins Live, DJs, Musikjournalisten oder Musiker wie der Sänger Frank Spilker von der Hamburger Band Die Sterne, liefern mittlerweile ihre Sendungen per Mail oder CD an Schnell.

Der komponiert daraus mit seinem Team in seinem Studio im Medienbunker in St. Pauli seinen Livestream - oder moderiert selbst. "24 Stunden am Tag ein vernünftiges Musikprogramm, so wie wir uns das alle immer gewünscht, aber nirgends mehr gefunden haben", sagt Schnell, das sei der Anspruch seines Senders, der sich ohne Werbung im Programm finanzieren soll. Das Geld kommt von einem Sponsoringvertrag mit einem Elektronikkonzern.

Doku-Soaps fürs Radio

Es reiche gerade mal so, sagt der ByteFM-Gründer, für den technischen Betrieb. Die Moderatoren arbeiten noch unentgeltlich, beschränken sich aber keineswegs auf das Abspielen ihrer Lieblings-B-Seiten alter Platten. Es geht um Musik, aber auch um die Geschichten drumherum. Manchmal etwas kopfgesteuert - doch durchweg mit Haltung.

Etwas erdverbundener als Schnell geht Maik Nöcker an die Neuerfindung des Radios ran, die er zusammen mit seinen Kompagnons Quu.FM genannt hat. Die Anfangsinvestitionen kamen von Geldgebern. Unter anderem Marcel Loko, Gründer der Hamburger Werbeagentur Zum goldenen Hirschen, ist beteiligt. Der Sender finanziert sich über Sponsoring und Werbung. Nöcker, 39, moderierte früher selbst bei Radio Hamburg oder Radio Schleswig-Holstein.

Die Strategie von Quu.FM ist eine Mischung aus bekannten Namen und Web 2.0. Von der Gründungsparty im Mai berichtete die Bild-Zeitung, weil auch der einstige MTV-Star Ray Cokes sein Gesicht in die Kamera hielt. Zwei Tage hatte Nöcker im Internet nach der E-Mail-Adresse von Cokes gesucht. Auf seine Mail antwortete der einstige Most wanted-Moderator prompt mit einer Zusage.

Mix aus Promi-Moderationen und viel Ausprobieren

Von Oktober an liefert Cokes die Show Ray moves to Berlin an den Websender. "Eine Art Doku-Soap fürs Radio", sagt Nöcker, solle es werden. Neben Cokes sind die Schriftstellerin Alexa Hennig von Lange oder die Schauspielerin Minh-Khai Phan-Thi regelmäßig auf Quu.FM vertreten. In der dazugehörigen Community sollen sich Hörer beteiligen, kommentieren, eigene Beiträge schicken. Wenn sie gut sind, können sie mal moderieren.

Seit kurzem kann sich auch Bärbel Schäfer hier ausprobieren. Die ehemalige Nachmittagstalkerin sendet bei Quu.FM, mittags von Montag bis Donnerstag, ihr "Schäferstündchen". Ihren Mann hat die 44-Jährige auch gleich mitgebracht: Michel Friedman soll sich immer dann auf dem Sender melden, wenn ihn irgendetwas in der Welt aufregt, vermutlich hört man Friedman also bald oft bei Quu.FM. Im Internet sei es wieder ein bisschen so wie in den Anfangszeiten des Privatradios, sagt Nöcker: "Man probiert viel aus und schaut, was funktioniert."

Noch ist der Zuspruch bei Quu.FM - trotz Promi-Moderationen - überschaubar. Der Marketingwind rund um Cokes soll's nun richten. Und so jingelt und bimmelt es schon gewaltig bei Quu.FM. ByteFM-Macher Schnell baut derweil weiter an seinem anspruchsvollen Bass- und Beat-Programm. "Viele von uns werden auch wieder verschwinden", sagt der Radiopionier. "Es setzt sich letztendlich durch, was Sinn macht." Am Ende wird auch im Internet das Geld entscheiden.

© SZ vom 3.9.2008/sst - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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