Radiomarathon:Alles schläft, einer wacht

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Der Künstler JJ Jones legt an Heilig Abend 24 Stunden am Stück Versionen von "Stille Nacht" auf. Zu hören ist das psychoaktive Experiment auf Radio München, zu sehen im Schaufenster des Ruffinihauses

Von Dirk Wagner

Wo die Sankt-Nikolaus-Kirche in Oberndorf bei Salzburg stand, steht jetzt eine Kapelle, die über eine Webcam weltweit zu bewundern ist. Besucher aus aller Welt vereinen sich hier alljährlich an Heilig Abend, um das Lied zu feiern, das dort vor fast zweihundert Jahren, am 24. Dezember 1818, uraufgeführt wurde: "Stille Nacht, Heilige Nacht". Der damalige Organist Franz Xaver Gruber hatte dafür ein Gedicht des Hilfspfarrers Franz Mohr vertont. Arrangiert für zwei Stimmen und Gitarrenbegleitung, weil die Orgel der Kirche defekt war. Die Archäologin Anna Holzer von der Stille-Nacht-Gesellschaft in Salzburg blickt mit wissenschaftlicher Skepsis auf die Legenden um das Lied, das Placido Domingo auch mal für prädestiniert "wie kein anderes Lied auf dieser Erde" für "das Welt-Friedenslied" befand.

Grubers Tagebüchern konnte Holzer entnehmen, wie viel wichtiger dem Komponisten seine Orgelwerke und Messfeiern waren. "Aber das Wort ,Stille Nacht' kommt nie vor", sagt die Forscherin und ergänzt, dass außerhalb von Grubers direktem Wirkungsgebiet auch niemand wusste, von wem das Lied war. Erst 1866 wurde es in Salzburg in ein offizielles Kirchenliederbuch aufgenommen, derweil es schon 1839 in New York vorgetragen wurde. Mittlerweile von der Unesco zum Immateriellen Weltkulturerbe erklärt, wurde das Lied in mehr als dreihundert Sprachen übersetzt. Viele US-Amerikaner hätten das Lied schon für ein amerikanisches Volkslied gehalten, behauptete 1943 die Schriftstellerin Hertha Pauli. Das erklärt vielleicht, warum der in München wirkende US-amerikanische Künstler JJ Jones seine Heimat Michigan gar nicht hätte verlassen müssen, um die in Oberndorf bei Salzburg errichtete Stille-Nacht-Kapelle zu sehen. Eine dreiviertel Stunde von seinem Elternhaus entfernt steht in den USA eine exakte Kopie jener Kapelle, sagt JJ Jones.

Seit Jahren veranstaltet er in München und in Augsburg Konzertabende, auf denen Künstler verschiedene Versionen ein und desselben Liedes darbieten. So war neben einer Country-Version von Prince' "Purple Rain" auch eine Fassung zu hören, die das Lied als italienische Oper ausgab. Oder Beethovens fünfte Sinfonie wurde auf einer Sitar als indischer Raga interpretiert. Wo Lieder ebenso geliebt wie gehasst werden, sieht JJ Jones besonders spannende Möglichkeiten, sich dem allgemein bekannten Song neu zu nähern. Etwa bei Nenas "99 Luftballons" oder bei Led Zeppelins "Stairway To Heaven". Für ein Weihnachts-Special seiner Veranstaltungsreihe "Same Old Song" hätte sich darum auch der erfolgreiche Weihnachtsschlager "Last Christmas" angeboten. 24 Stunden, so JJ Jones, könne man damit aber nicht füllen. Also wählte er vor drei Jahren den Klassiker "Stille Nacht", um ihn an Heiligabend in einem 24-stündigen Marathon live in der Milla von Münchner Künstlern neu interpretieren zu lassen. Ergänzt von dokumentierten Schallplatten-Aufnahmen, die Dim Sclichter der Veranstaltung beisteuerte. Live wurde das auf Radio München übertragen. Weil Heiligabend aber gemeinhin als Familienfest gefeiert wird, war es zu schwierig, in den Folgejahren Mitarbeiter zu finden, die eine 24-stündige Öffnung des Clubs möglich gemacht hätten. Zumal der Umsatz nicht die dauerhafte Besetzung der Bar rechtfertigte.

Trotzdem sucht JJ Jones auch heuer wieder die Öffentlichkeit, wenn er am 23. Dezember von 24 Uhr an, 24 Stunden lang neue Versionen des Weihnachtsliedes auf Radio München präsentiert. Dann kann man ihn und seinen Co-Moderatoren Dim Sclichter auch im Schaufenster des Ruffinihauses am Rindermarkt besuchen oder den beiden zumindest von draußen zuschauen. "Natürlich wäre es technisch einfacher, das ganze im Studio von Radio München zu produzieren", sagt JJ Jones. "Aber meine Frau kann bestätigen: Ich bevorzuge die schwierigeren Lösungen."

Außerdem will er die Stille Nacht auch in München beobachten können. Neben Versionen von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, den Munich Storyfellas, einem syrischen Friedenschor und einer österreichischen Death-Metal-Band kommt vielleicht auch die Aufnahme des Bariton-Sängers Rafael Fingerlos zu Gehör, die sein bei Oehms Classics erschienenes Album "Stille und Nacht" schließt, das sich anlässlich der bevorstehenden 200-Jahresfeier des Liedes auch mit weiteren musikalischen Arbeiten über Stille und über Nacht befasst. Und vielleicht wagen JJ Jones und Dim Sclichter um 17 Uhr auch eine Live-Schaltung nach Oberndorf. Dann wird dort nämlich "Stille Nacht" gesungen, was dank eines Live-Streams über " www.stillenacht.info" miterlebt werden kann.

Stille Nacht , Sa., 23. Dez., 24 Uhr bis So., 24. Dez., 24 Uhr, über DAB oder auf www.radiomuenchen.net und im Schaufenster des Ruffinihauses am Rindermarkt

© SZ vom 22.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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