Psychoanalyse auf der Couch:Was hätte Freud dazu gesagt?

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"So you are from the Sudetische Zeitung?" In Berlin tagt der Weltkongress der Psychoanalyse - ein Besuch, nicht ohne Bangen, bei 3000 Psychoanalytikern.

Burkhard Müller

Mit großem Polizeiaufgebot wird die Berliner Kurfürstenstraße abgesperrt. Auf dem Mittelstreifen haben sich mehrere hundert Personen versammelt, um ein winziges Denkmal zu enthüllen, ein klassisches Bas-Relief, eine anmutig schreitende und sich umwendende junge Frau darstellend. Es handelt sich um eine Replik der Gradiva, die Sigmund Freud in seinem Arbeitszimmer hängen hatte - Gradiva, die durch die Trümmer von Pompeji wandelt, Titelfigur einer Novelle von Wilhelm Jensen und von Freud eingehend analysiert.

An dieser Stelle, wo sich heute ein Betongebirge erhebt, bei dessen Anblick einem alle Sünden der Sechziger einfallen, hatte 1922 das letzte Mal in Berlin und noch unter persönlicher Teilnahme Freuds der Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung stattgefunden.

Wo Stauffenberg erschossen wurde und Cruise nicht drehen darf

Und jetzt wieder. "Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten" hat er zu seinem Thema gewählt, nach dem Titel eines Aufsatzes von Freud, und meint damit ebenso sich selbst wie seine Gegenstände; sein Emblem ist eine durchbrochene Mauer. "Trauer, Vergebung, Versöhnung" hatte es ursprünglich heißen sollen, aber das war am Widerstand der israelischen Sektion gescheitert, die der schon vor Jahrzehnten ausgesprochenen Einladung nunmehr doch folgen wollte. Der Kongress tagt im Hotel Maritim, direkt gegenüber dem Bendlerblock, wo 1944 Stauffenberg erschossen wurde und jetzt Tom Cruise nicht drehen darf. Mit der Wahl des Ortes, so spürt man, ist etwas sehr Wichtiges geschehen; eine Wunde hat sich geschlossen, ein Ganzes sich spät neu gerundet.

Dreitausend Psychoanalytiker aus der ganzen Welt haben sich eingefunden. Dreitausend - man kann sich, wenn man ans Bild des Analytikers gewöhnt ist, wie er sein schwieriges Werk in intensiver Abgeschiedenheit verrichtet, die Zahl kaum vorstellen. Der fremde Gast, der nicht ohne Bangen gekommen ist, erfährt einen aufgeschlossenen Empfang, der freundliche Fehlleistungen einschließt: "So you are from the Sudetische Zeitung?"

Der Geist der Rückkehr äußert sich auch inhaltlich. Der Name Sigmund Freuds fehlt nirgends, viele Referenten beginnen mit einer Verbeugung vor ihm. Wer, von außen kommend, nur Freud kennt und sonst gar nichts vom Fach, versteht mehr, als er zu hoffen wagte. Der alte Streit der Schulen scheint in einem allgemeinen Burgfrieden zur Ruhe gekommen. Was ist heute das "Paradigma" der Psychoanalyse? Die Hauptversammlung des ersten Tages lässt die Bereitschaft erkennen, viele Paradigmen zu tolerieren, und eben so viele "Strategien" im Umgang mit der Vielfalt der Fälle.

Unter Druck

Das ist schwerlich, was Kuhn, der zustimmend zitierte Begründer der Rede von Paradigma und Paradigmenwechsel, gemeint hat. Sein Paradigma war eines, dessen exklusiver Herrschaftsanspruch obsiegte oder zähneknirschend unterlag, und darin strikt an die Sukzession in der Zeit gebunden. Die Vorliebe für diese Vokabel, verbunden mit einer verunklärenden pluralistischen Verwendung, wies auf den wunden Punkt, der offensichtlich unverändert fortbesteht:

Die Psychoanalyse erhebt den Anspruch, zu den exakten Wissenschaften zu gehören, und hat Mühe, ihn gegen die Zweifler zu behaupten. Psychoanalyse, das ist eine Kulturtheorie, eine therapeutische Praxis und "Science" im harten angelsächsischen Sinn zugleich; und dass sie an diesem Indifferenzpunkt von Geisteswissenschaft, Naturwissenschaft und ärztlicher Kunst steht, macht ihre Stärke ebenso wie ihre Schwäche aus.

Ihr Siegeszug scheint sich immer noch fortzusetzen, und mit Stolz war die Rede davon, dass sie ihre alten Schranken gesprengt habe, in jede Richtung: Es wird jetzt auch, was Freud als unmöglich ablehnte, neben der Neurose die härtere Nuss der Psychose geknackt; die Analyse breitet sich in Ländern und Gesellschaften aus, wo es sie nie zuvor gegeben hatte, sie dringt vor in Osteuropa, in Lateinamerika, selbst in China; und sie überspringt die alte Klassengrenze, indem etwa in Brasilien Sondertarife für die ärmeren Schichten angeboten werden.

Dennoch fehlte es nicht an Warnungen vor Stagnation und an Ermunterungen, die gegenwärtige Krise durch Wandlung zu bestehen; denn dass es trotzdem eine Krise gibt, wurde allgemein empfunden. Der Traum Freuds war es ja gewesen, dass die Analyse eines Tages in einer verfeinerten Neurochemie aufginge. Die Erfüllung dieses Traums rückt mit den gegenwärtigen Fortschritten in Neurologie und Pharmakologie langsam näher, wodurch allerdings das Fach in seiner etablierten Gestalt unter Druck gerät.

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Wer braucht im Zeitalter wirkungsgenauer Psychopharmaka noch die sehr viel teurere Analyse? Aufnahmen eines Kernspintomografen zeigen, dass auch die analytische Therapie zu Veränderung im Gehirn führt, und in soweit sieht sie sich gerechtfertigt; es bleibt das Problem ihres zeitlich und finanziell vergleichsweise höheren Aufwands.

Das Bild der Mutter

Ein Neuro-Psychoanalytiker - dieses Berufsbild existiert also bereits - sprach aufschlussreich über die hirnorganischen Grundlagen des Gedächtnisses, und obwohl er es pietätvoll unterließ, diesen Punkt allzusehr zu betonen, wurde doch klar, dass Freuds archäologische Leitmetapher dringend der Revision bedarf: Erinnerung ist kein verschüttetes Gemäuer, das einfach da und auszugraben wäre, sondern ein komplexes synthetisches Phänomen, dynamisch mit der Gegenwart verbunden. Erinnerung, nicht ihre Unterdrückung, ist die zentrale psychische Leistung.

Hier lag der Mittelpunkt. Von ihm aus griff der Kongress, in Freudscher Tradition, auf die zwei Themenbereiche der Kunst und der Deutung der Gesamtgesellschaft über. Beim Bild von Mutter und Kind durch die Jahrtausende lässt sich objektiv feststellen, dass Phasen großer Innigkeit abwechseln mit solchen der Distanz. Wird man aber einer byzantinischen Gottesgebärerin mit dem kleinen Weltenherrscher auf den Knien wirklich gerecht, wenn man darin die Verdrängung des symbiotisch-inzestuösen Anteils der Beziehung und bei Raffaels Madonnen das Gegenteil erblickt? Jede historische Differenz war hier eingezogen; die entscheidende Kategorie des Sakralen in ihrer absoluten Trennung von der irdischen Welt, ohne die man das Mittelalter nicht verstehen kann, fehlte ganz.

Gespannt war man, was die Analyse des Verhältnisses zwischen Israelis und Palästinensern ergeben würde. Einer der zwei Israelis auf dem Podium sprach davon, dass man die Politik des Staates Isreal nur aus dem israelischen Charakter begreifen könne, der zwei widerspruchsvolle Komponenten aufweise: das Bild vom "weibischen" Juden, der sich widerstandslos zur Schlachtbank führen ließ, sei in einer großen Anstrengung durch das des "neuen" Juden ersetzt worden, maskulin bestimmt bis zum Übermaß.

"An American thing to do"

Gleichzeitig aber bestehe noch immer das Selbstverständnis als Opfer, und ein Opfer könne kein Unrecht tun. (Es ist nicht zu erwarten, dass die Welt diese Erklärung, selbst wenn sie sie verstanden hat, akzeptieren wird.) Dass auch die Palästinenser die Position des unrechtfreien Opfers für sich beanspruchen, mache die Sache nicht leichter. Der Referent sprach mit der wenig fachspezifischen Stimme der Vernunft. Die Ruhe, mit der er auch das Recht des Anderen bedachte, blieb der anderen Seite verwehrt. Sein palästinensisches Gegenüber redete im nur mühsam gebändigten Affekt von den zerstörten Dörfern seiner Heimat und davon, wie vor kurzem erst, als seine Schwester gestorben war, die israelische Fluggesellschaft El-Al die Überführung des Leichnams verweigert hatte.

Als die Diskussionsleiterin, eine US-Bürgerin ägyptischer Herkunft, eine offenbar arabische Wortmeldung aus dem Publikum wegen Überschreitung der Redezeit unterbrach, schallte es mit unverkennbar deutschem Akzent durch den Raum: "This is an American thing to do! This is not good!" Die Durcharbeitung dieses Konflikts ist noch nicht abgeschlossen.

Ehrengast der Veranstaltung war Christa Wolf. Ihr Vortrag, "Der blinde Fleck", in dem es um Erinnerungskultur, Günter Grass, Faust II, das Matriarchat, Ödipus, den Schwarzen Block und Konsumverzicht ging, war überlang, schlecht strukturiert und bot keinen neuen Gedanken. Übrigens ist nicht nur Tom Cruise in dieser Woche zu Dreharbeiten in der Stadt, auch Nicole Kidman wird erwartet. In Berlin kehrt das Verdrängte wieder.

© SZ vom 30.7.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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