Wir leben in einer Welt der Unwissenheit. Mike Huckabee etwa, immerhin derzeit führender Präsidentschaftskandidat der Republikaner, ist davon überzeugt, dass Gott die Welt vor erst 6000 Jahren geschaffen hat. Mit solchen Ansichten ist er in den Vereinigten Staaten nicht allein: Zwei Drittel aller Republikaner glauben, dass Menschen und Affen keine gemeinsame Vorfahren haben; unter ihnen befindet sich auch der noch amtierende US-Präsident.
Unwissenheit muss keineswegs von mangelnder Bildung herrühren. In den USA etwa werden ungefähr 4400 offizielle Zensoren beschäftigt, deren ausschließliche Aufgabe darin besteht, den gewaltigen Datenausstoß der nationalen Militärtechnologie-Laboratorien als "geheim" einzustufen. Jahr für Jahr werden so Millionen von Druckseiten vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen.
Ein noch direkter tödliches Spiel mit der Unwissenheit spielt die Tabakindustrie. Sie verschleiert die Risiken der Rauchens systematisch und bewusst: "Unsere Ware ist Zweifel" war eine interne Analyse des Tabakriesen Brown & Williamson von 1969 überschrieben. "Unsere Ware ist Zweifel", das heißt: Wir können nur weiter Zigaretten verkaufen, wenn wir unsere Käufer davon ablenken können, dass Zigaretten töten. Seither hat die Tabakindustrie alles daran gesetzt, Zweifel zu säen; sie hat Wissenschaft mit Wissenschaft bekämpft, "Experten" dafür bezahlt, "alternative Erklärungsmodelle" auszuarbeiten und die Medien dazu gebracht, von "zwei Seiten" einer vorgeblichen "Tabak-Kontroverse" zu sprechen.
Die Etablierung einer scheinbar offen geführten "Tabak-Kontroverse" ist das Grundelement der Unwissenheits-Kampagne der Tabakindustrie. Und dies nicht nur in den USA: Die Strategie des systematischen Zweifels ist weltweit übernommen worden. Dass etwa der Klimawandel erst so stark verspätet im allgemeinen Bewusstsein Einzug gehalten hat, hängt unter anderem auch damit zusammen, dass die Ölindustrie sich an Erkenntnissen der Tabakriesen orientierte. Oft wurden sogar die gleichen "Experten" dafür bezahlt, Zweifel und Konfusion künstlich zu erzeugen.
Klimaerwärmung und Nikotintod gleichen sich in einem Punkt: Das Schlechte von heute wird erst Jahrzehnte später sichtbar werden. Es kann also leicht ignoriert werden. Die Industrie verspottet die Tatsache des Massensterbens durch Tabak gern als eine vorgestrige Erkenntnis, dabei wird sie in Wahrheit erst in der Zukunft wirklich sichtbar werden. Im 20. Jahrhundert sind 100 Millionen Menschen durch Rauchen gestorben, in diesem Jahrhundert werden es zehnmal so viele sein. Die Weltgesundheitsbehörde geht davon aus, dass zur Zeit jährlich fünf Millionen Menschen durch Rauchen umkommen; bereits in den kommenden Jahrzehnten werden es jährlich etwa zehn Millionen sein.
Diese Zahlen beziffern die größte Gesundheitskatastrophe aller Zeiten. In die Höhe getrieben werden sie durch die Strategie der Tabakindustrie, sich selbst unsichtbar zu machen. Zigaretten werden zwar geraucht, es wird aber niemals darüber gesprochen, wie sie produziert werden. Vielleicht wäre die Öffentlichkeit nicht derart einfach zu sedieren, wenn mehr darüber gesprochen würde, dass die Herstellung von Zigaretten beispielsweise einer der schlimmsten Faktoren von Umweltverschmutzung ist.
Zigaretten sind sowohl für weitreichende Abforstungen als auch für die Erderwärmung mitverantwortlich. Jährlich werden weltweit etwa zwei Prozent aller Waldflächen für Tabakfelder abgeholzt, Millionen von Bäumen werden zu Zigarettenfiltern verarbeitet. Allein in den USA werden zehn Millionen Kilogramm Pestizide auf Tabakfarmen eingesetzt. Weltweit stellen Zigarettenstummel eine der größten Abfallmengen dar. Der Kohlendioxidausstoß von Zigarettenherstellung und -konsum übertrifft den der meisten anderen Industrien. Zigaretten sind weltweit die größten Verursacher von Bränden, Todesopfern durch Brände und ein führender Grund für Arbeitsunfälle. Würden Zigaretten vollständig abgeschafft, wäre ein Treibhausgasausstoß vermieden, der dem von Benzin kaum nachsteht.
Das Ausmaß der Zigarettenproduktion ist schwer vorstellbar. Weltweit werden jährlich etwa sechs Trillionen Zigaretten geraucht, etwa tausend pro Mann, Frau und Kind auf der Erde. Zigaretten sind 80 Millimeter lang, insgesamt werden also pro Jahr 500 Millionen Kilometer an Zigaretten geraucht - was in etwa von der Erde zur Sonne und zurück reichen würde, mit ein paar Kurven um den Mars herum. Wer aber produziert diese ganzen Zigaretten? Und wie? An diesem Punkt kommen die Deutschen ins Spiel.
Wollen wir das wirklich?
Die moderne Tabaksherstellung ist ohne Mechanisierung nicht denkbar. Die Geschichte der Tabak-Mechanisierung begann im 19. Jahrhundert, als der Wollfabrikant James Bonsack in Virginia eine Maschine erfand, die eine beliebig lange Zigarette rollen und danach in Stücke schneiden konnte. Die Bonsack-Maschine verringerte die Kosten der Tabakherstellung entscheidend und erhöhte zugleich die Geschwindigkeit, in der Zigaretten hergestellt werden konnten. Während die Manufakturen-Arbeiter in Richmond oder Dresden nur vielleicht 1000 Zigaretten am Tag rollen konnten, schossen aus Bonsacks Maschine 100 000 heraus - und das ohne jede Ermüdungserscheinung oder drohende Streiks.
Aber das war nur der Anfang. Der Ausstoß der Zigarettenmaschinen wuchs das gesamte 20. Jahrhundert über. Die vom Londonder Unternehmen Molins Co. 1926 entwickelte Maschine "Mark I" produzierte 1000 Zigaretten in der Minute, viermal so viel wie die beste Bonsack-Maschine. Die "Mark VIII" von 1956 verdoppelte dieses Ausstoß bereits, und aus dem "Ypsilon Maker" von 1970 schossen bereits 4000 Zigaretten in der Minute. Die besten - und tödlichsten - Maschinen aber entwickelten die Deutschen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg lag das deutsche Zigarettenwesen darnieder. Adolf Hitler hatte das Teufelskraut zeitlebens verachtet und als die "Rache des roten Mannes" bezeichnet, die die Indianer gegen den Schnaps hergetauscht hätten. Das von ihm eingerichtete weltweit erste "Institut zur Erforschung der Tabakgefahren" an der Universität Jena leistete pflichtbewusst erstklassige Forschungsarbeit und wies Tabakkonsum als Hauptfaktor von Lungenkrebs nach. An vielen öffentlichen Plätzen und in sämtlichen NS-Einrichtungen waren Zigaretten strengstens verboten.
Nach dem Krieg aber hatten Zigaretten in Deutschland plötzlich viele Freunde. Die amerikanischen Besatzungstruppen trugen zu ihrer Durchsetzung bei; auch bildete Tabak eine wesentlichen Teil des Marshallplans: Jeder dritte Dollar der Lebensmittelhilfe wurde in Form von Tabak transferiert. Die Nationalsozialisten waren gegen Tabak gewesen, Tabakkritiker mussten also Nationalsozialisten sein; Zigaretten waren hingegen "Freiheitsfackeln", Symbole der neuen Unabhängigkeit.
Wie ein Phönix aus der Asche erstarkte die deutsche Zigarettenindustrie wieder. In Hamburg gründete sich die Reemtsma-Gruppe neu, in Ostdeutschland wurden neue Zigarettenfabriken in Dresden errichtet. Und der Diplomingenieur Dr. Kurt A. Körber begann, Zigarettenmaschinen zu konstruieren und zu reparieren. Die Deutschen mochten Filter-Zigaretten; Dr. Körber entwickelte ein System, mit dem man Filter schnell und maschinell auf die Zigarettenhülsen aufsetzen konnte. 1946 gründete er die Hauni Maschinenbau AG, ebenfalls Hamburg, die sich mit der Qualität und Präzision ihrer Maschinen schon bald einen ausgezeichneten Ruf erwerben konnte.
Heute ist Hauni der weltweit größte Hersteller von Zigarettenmaschinen und beliefert Tabakfirmen in aller Welt mit den tödlichsten Maschinen, die jemals hergestellt wurden. Die Firma produziert verschiedene Modelle, die Krönung ihrer Produktpalette aber ist die Maschine "Protos-M5", eine wahrhaftige Killermaschine, die in einer einzigen Acht-Stunden-Schicht fünf Millionen Zigaretten ausspuckt. Bei bloß zwei angesetzten Schichten am Tag und nur 200 Produktionstagen ergäbe das immer noch zwei Milliarden Zigaretten im Jahr.
Was für einen Schaden kann eine solche Menge verursachen? Tabak verursacht etwa einen Todesfall pro Million gerauchter Zigaretten. Wenn man die Zahl der in einer Gesellschaft gerauchten Zigaretten nimmt und durch eine Million teilt, kommt man immer auf die Zahl derer, die zwanzig bis dreißig Jahre später tatsächlich daran zugrunde gehen. Der größte Anteil stirbt an Herzerkrankungen, etwa ein Drittel an Lungenkrebs.
Die "Protos-M5" von Hauni Maschinenbau verursacht also etwa 2000 Tote pro Jahr. Natürlich hat eine moderne Zigarettenfabrik viele solcher Maschinen in Betrieb, in der Regel Dutzende. Diese Verflechtungen sind auch auf den Internetseiten zum großen US-amerikanischen Rechtsstreit mit der Tabakindustrie unter www.legacy.library.ucsf.edu einzusehen - man muss dort nur "Hauni" eingeben und wird den Rest von selber finden. Oder aber man kann die Firmenhomepage von Hauni Maschinenbau aufrufen, auf der damit geprahlt wird, dass, wenn es um Zigarettenproduktion gehe, "alles möglich" sei.
Hoffentlich ist es das nicht. Alle Menschen müssen sterben. Aber wollen wir das wirklich mit Höllenmaschinen wie der "Protos-M5" beschleunigen? Francis Bacon lag nur zur Hälfte richtig: Nicht nur Wissen, auch Unwissen bedeutet Macht. Aber wenn Unwissen geschaffen wird, dann kann es auch zerstört werden.
Der Autor ist Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Stanford-Universität. Sein gemeinsam mit Londa Schiebinger herausgegebenes Buch "Agnotology: The Making and Unmaking of Ignorance"erscheint im Juni 2008 bei Stanford University Press.
Deutsch von Florian Kessler