Porträt: Jessica Schwarz:"Du wirst nackt sein, stirbst, und das Ganze auf Englisch"

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Die Schauspielerin Jessica Schwarz ist definitiv kein akademischer Typ - auch das drückt ihre große Begabung aus.

Christopher Keil

Es ist Sonntag. Die Autos walzen ihre Spuren in den letzten frischen Schnee des Winters. Die Stadt ist leer, aber die Cafés sind voll. Jessica Schwarz hat sich verspätet. Keine Parkplätze auf dem Prenzlauer Berg. Sie setzt sich an den Tisch, zündet sich eine Zigarette an, bestellt Kaffee, ein Wasser und beginnt zu sprechen. Das Handy schnurrt. Und während sie spricht, schaut sie aus dem Fenster, das fast bis zum Boden reicht.

Als Lulu ist sie nackt, verstellt, verletzlich, verletzend, schüchtern, aggressiv, Opfer, Täter, sinnlich, brutal und einsam. (Foto: Foto:)

Wenn das eine Filmszene wäre, könnte im Drehbuch stehen: Sie spricht, schaut durch den Schneefall, ihr Blick hat kein Ziel. Gerade sagt Jessica Schwarz, dass eine ¸¸unglaubliche Aufgabe" bewältigt worden sei. Bis zu 25 Minuten am Stück habe sie spielen dürfen. Man denkt, das sind die Reize des verfilmten Theaters. Sie spricht über Lulu. Der Regisseur Uwe Janson hat das von Frank Wedekind vor hundert Jahren geschriebene Theaterstück für das Fernsehen inszeniert. Wedekind nannte es: Die Büchse der Pandora. Lulu verbreitet Geilheit, Raserei und Zerstörung. Am Ende wird sie zur Hure und von Jack the Ripper erstochen. Bei Janson überlebt sie.

Janson braucht man mit ¸¸Theaterverfilmung" nicht zu kommen. Lulu ist ein Film. Nur arbeiten sollten alle wie am Theater. Und schon sagt Jessica Schwarz, wie außergewöhnlich diese Arbeit gewesen sei. Sie spielt Lulu.

Gedreht wurde im vorigen Sommer in einem Haus am Kurfürstendamm in Berlin. Mal war dort ein Finanzamt untergebracht, mal ein Boarding Haus. Regisseur Janson hat sich eine Hotelkulisse bauen lassen. Der Wahnsinn in vier Zimmern, in vier Akten. Er ist chronologisch vorgegangen: Jeder Akt eine Woche. Vier Wochen war das Team in diesem Haus, immer alle an einem Ort. Das gibt es beim Drehen sonst nicht. ¸¸Jeder wollte sehen, was abgeht", sagt Jessica Schwarz. Regisseur Janson glaubt, dass sie jetzt ihren Durchbruch als Charakterdarstellerin haben werde.

Was ist eine Charakterdarstellerin? Jessica Schwarz spielte im Roten Kakadu von Dominik Graf eine gehbehinderte, gefühlskluge junge ostdeutsche Dichterin (für die offensichtlich Brigitte Reimann Vorbild war). Sie spielte in der Wellershof-Verfilmung Liebeswunsch von Torsten C. Fischer eine junge Studentin, die mit ihrem Wunsch nach Liebe eine Katastrophe auslöst. Sie spielte eine Tochter aus großbürgerlichem Haus, die unter dem Einfluss einer Familienlüge, von Drogen und von Sex erwachsen wird (Kalter Frühling, ARD).

Jessica Schwarz hat nie eine Schauspielschule besucht. Dominik Graf, der sie schon für vier Projekte engagierte, hält sie für einen Menschen ¸¸mit einer angeborenen Lebenserfahrung". Er sagt: ¸¸Sie nähert sich einer Figur sehr ordentlich, kann dann aber loslassen, und die Figur neu erfinden." Und Schauspielschulen seien ¸¸für viele Dinge sehr gut, für andere gar nicht".

Liebeswunsch läuft erst in ein paar Monaten im Kino. Der Rote Kakadu hatte während der Berlinale im Februar Premiere. Anfang Mai strahlt das ZDF das Fernsehspiel 48 Stunden Barcelona aus. Und nun also Lulu auf Arte. Charakterdarstellerin in ein paar Wochen?

¸¸Als Lulu", sagt Jessica Schwarz, ¸¸bin ich eine Frau, die weiß, wie sie ausschaut. Das habe ich noch nicht gehabt." Als Lulu ist sie nackt, verstellt, verletzlich, verletzend, schüchtern, aggressiv, Opfer, Täter, sinnlich, brutal und einsam. Früher befürchtete Jessica Schwarz oft, dass man ihr nichts zutraue. Und hat bei ihrer Rollenauswahl zuverlässig die komplizierte Lösung gesucht. Das ist seltsam, weil verunsicherte Menschen nicht die komplizierten Lösungen suchen. Andererseits: So ist sie dann eben.

Natürlich ist sie hübsch. Sie hat unglaublich blaue Augen, dunkles Haar, einen Leberfleck unten rechts auf der Lippe. Sie war Model mit 16 und Viva-Moderatorin mit 20. Sie wollte die Leute unterhalten, schon als Kind auf dem Weihnachtsmarkt. Sie wuchs im Odenwald auf. Es gab Fachwerk, Kühe, und dem Vater gehörte ein Kiosk. Sie rannte vor einen Laternenpfahl: Narbe an der Augenbraue. Die Schwester zerschlug ein Glas auf ihrem Kopf: Narbe. Was war das bloß für eine Jugend in Michelstadt?

Eine großartige. Sie hatte sämtliche Panini-Fußballbilder. Im Kiosk gab es Comics, Zigaretten und zu Silvester das größte Depot an Feuerwerkskörpern. Die Jungs waren schwer begeistert.

Bis zum 14. Geburtstag teilte sie mit der Schwester das Zimmer. Sie schloss die Realschule ab. Sie wollte unbedingt weg. Die Eltern verstanden sie nicht. Sie verstand die Eltern nicht. Die Freunde waren auf Interrail-Tour in Europa. Sie jettete von New York nach Mailand nach Tokio nach Sydney. Sie lernte, in Kleider zu steigen und auf dem Laufsteg in eine Rolle zu schlüpfen. Doch sie konnte niemanden mehr anrufen und fragen, was Traum, was Wirklichkeit war. ¸¸Im Nachhinein", sagt sie, ¸¸muss ich feststellen, dass ich Trauer verspürt habe."

Michelstadt ist wieder nah. Mit den Kindern der Schwester schaut sie die Räuber-Hotzenplotz-DVD, an fünf Tagen in Folge. Sie wohnt in Berlin und teilt sich das Leben mit dem Schauspieler Daniel Brühl. Den vergangenen Sommer haben beide in Barcelona verbracht. Jessica Schwarz lernte Spanisch. Eines Tages rief Tom Tykwer an: Sie solle eine Nutte spielen. Der Regisseur, der in Barcelona am kolossalen Werk Das Parfum bastelte, sagte: ¸¸Du wirst nackt sein, stirbst, und das Ganze auf Englisch." Seither bewundere sie Nebenrollendarsteller: ¸¸So kurz, voll rein." Sie lächelt. Sie meint, was sie da sagt. Nicht ein falscher Halbton ist zu hören.

Sie hat eine besondere Stimme. Manchmal ist ihre Stimme leise, nie zu leise. Manchmal kräftig, nie zu kräftig. Die Stimme kann sich überschlagen, wenn sie sich überschlagen soll. Was in den Filmen bislang oft der Fall war, weil sie Charaktere spielte, die auch brüllen, die weinen und durchdrehen.

Ihre Stimme spricht einen doch sehr an. Eigentlich fallen Stimmen nie auf. Und in ihrem Gesicht kann man in einer Stunde, wenn sie über Lulu redet, über Familie oder die Zukunft mehr Veränderungen erkennen als bei den meisten Charakterdarstellern. Veränderungen im Gesicht gibt es beim Gespräch an diesem Nachmittag in Berlin aus Vorsicht, Ablehnung, Begeisterung, aus Erstaunen, Unsicherheit und aus Erschöpfung.

Vor zehn Monaten etwa hat sie Bilanz gezogen. Sie war 28 Jahre alt. Sie war seit beinahe sechs Jahren Schauspielerin. Sie machte bei fünf Kino- und fünf Fernsehfilmen mit. Sie war für Preise nominiert. Sie hat Preise gewonnen. Sie hat sich an Hörbüchern beteiligt, die Beat Shakespeare und Rilke Projekt Teil III heißen. Sie hat den Deutschen Filmpreis präsentiert. Sie fragte sich: ¸¸Wo stehe ich? Und wie habe ich mich entwickelt?" Sie pausierte erst einmal. Fast ein Jahr.

Und wo steht sie heute? Sie ist sich sicher, dass sie den Beruf, das Schauspielen, länger ausüben werde.

Das ist wichtig. Sie sagt: ¸¸Ich bin kein akademischer Typ." Deshalb ging sie zum Musiksender nach Köln, als gerade ein Platz an der Münchner Otto-Falckenberg-Schule für Schauspiel frei war. Sie wurde trotzdem eine gute Schauspielerin. Sie könnte ein Star werden. Oder nach Michelstadt zurückkehren. Sie hat Geheimnisse. Wunderbar.

Für Lulu hat sie einen Schauspiellehrer engagiert, da ¸¸wahnsinnig viel gesprochen werden musste". Beim Roten Kakadu hat sie gelernt, ¸¸dass man nicht immer alles verstehen kann, was man spielt". Das Praktische daran ist, dass sie das schützen wird - und das Sympathische, dass auch Luise, das DDR-Mädchen aus Dresden, das sie im Roten Kakadu spielt, nicht alles versteht. Weder sich noch die Zeit des Mauerbaus 1961.

Es hat aufgehört zu schneien. Die Menschen verlassen die Cafés auf dem Prenzlauer Berg und treten ihre Spuren in den schmelzenden Schnee. Jessica Schwarz, bald 29, sagt, dass sie ¸¸ganz früh angefangen habe, ganz viel zu tun". Sie glaubt, dass ihre Eltern auch deshalb stolz auf sie seien, denn ¸¸die haben sich auch auf neue Sachen eingelassen".

Neulich sei plötzlich eine ¸¸Tonne Bilder" der Oma aufgetaucht. Man bestaunte die Oma beim Tanzen - in Ostpreußen im Fronttheater. Später hatte die Oma einen Import für Großwildkatzen. Eine interessante Biografie. Jessica Schwarz hat als Online-Moderatorin von Wetten, dass . . .? im ZDF zwei Jahre die Biografien der Showgäste auswendig gelernt. Viele waren interessant. ¸¸Es ist viel schöner", sagt sie, ¸¸eine Biografie zu leben."

Lulu, Arte, Montag, 20.40 Uhr.

© Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr.71, Samstag, den 25. März 2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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