Porträt:Der Grenzüberschreiter

Lesezeit: 4 Min.

Claus Vester produziert und spricht in seinem Tonstudio ganz besondere Hörbücher - zum Beispiel die sehr aktuellen Analysen des Schriftstellers Arno Gruen

Von Oliver Hochkeppel

Für Claus Vester wird Kultur immer dann spannend, wenn sie Grenzen und Genres überschreitet - vielleicht das Resultat seiner Jugend im Internat Collegium Augustinianum Gaesdonck. Sein Kunstlehrer, der Beuys-Entdecker und spätere Beuys-Archiv-Direktor Franz Joseph van der Grinten, übte nicht nur auf ihn einen prägenden Einfluss aus. Der zeigt sich zum Beispiel in den Bildern, die in Vesters Wohnung hängen: Asiatische Motive leuchten da in expressionistischen Farben, arrangiert in geometrischen Mustern, die an Lyonel Feininger oder Paul Klee erinnern. Die - direkt in den Künstlerateliers aufgespürten und erworbenen - Werke stammen aus Myanmar. "Die burmesischen Maler haben sich früher als in anderen asiatischen Ländern mit der klassischen Moderne beschäftigt. Nur ist das wegen der langen Abschottung des Landes weithin unbekannt geblieben", erzählt er.

Sein Entdeckerdrang erstreckt sich auch auf die Musik. Mehrmals die Woche kann man Vester im Jazzclub Unterfahrt antreffen. Doch die Jazzleidenschaft ist jung: "Für mich war Jazz lange nur Dixie und Swing. Und das hat mich nicht interessiert." Vor ein paar Jahren schneite er dann eher zufällig in eine Matinee des BMW Welt Jazz Awards hinein und war verblüfft, was ihm da als "Jazz" entgegenschlug. Es besuchte daraufhin mit einem ebensolchen Eindruck die Unterfahrt, wurde Mitglied und ist nun regelmäßig für die alle Grenzen überschreitenden jungen Jazzer wie Andreas Schaerer entflammt.

Als Theater-Lichttechniker und Multimedia-Redakteur hat er angefangen, heute macht Claus Vester aufwändige Hörbuchproduktionen. (Foto: Catherina Hess)

Auch in seinem Beruf kann Vester seit einiger Zeit seinen ganzheitlichen Kulturbegriff ausleben. Seinen Tonstudiobetrieb "cc live" hat er nicht nur vom reinen Hörbuchdienstleister zum Verlag mit vielfältigen Produktionslinien erweitert, er ist inzwischen auch selbst sein wichtigster Sprecher. Sogar den für Nicht-Schauspieler sehr schwierigen Einstieg ins Synchronsprecher-Metier hat er mittlerweile geschafft. In dieser Doppelrolle als Produzent wie Ausführender fühlt sich der 53-jährige Vester wohl, ja fast ein wenig bei seiner Bestimmung angekommen. Der Weg dahin war freilich verschlungen.

Nach dem Abitur kam der gebürtige Düsseldorfer Mitte der Achtzigerjahre zum Theaterwissenschaftsstudium nach München. Anders als die meisten Kommilitonen hielt sich Vester allerdings nicht lange mit der Theorie im Hörsaal auf, sondern trieb sich schnell in den Theatern selbst herum. Vor allem das Drumherum, die im Hintergrund laufenden Vorgänge faszinierten ihn. Am Theater Rechts der Isar und dem Lore Bronner Tourneetheater machte er Regieassistenz, bei Gerd Neuners ETA-Tanztheater und Freilichtaufführungen kümmerte er sich um das aufwändige Lichtdesign. Von in Ferienjobs erarbeitetem Geld kaufte er die an den freien Theatern fehlenden Geräte und hatte hopplahopp plötzlich seine erste Firma, einen kleinen Lichtverleih. Und wechselte im Studium von der Theater- zur Betriebswissenschaft, zur Unterfütterung seines kleinen Unternehmens, aber auch den Eltern zuliebe, und um die Bundeswehr hinzuhalten. Just in diese Zeit fiel auch der Durchbruch des Computers und der EDV. Vester sah sofort wieder Verknüpfungsmöglichkeiten, wurde ein Pionier der computerunterstützten Produktionsleitung an der Filmhochschule, war gar ein paar Jahre Multimedia-Redakteur bei der Computerfachzeitschrift Chip, wo er erstmals Rezensionen zu den aufkommenden CD-Roms wie Buchkritiken schrieb. Außerdem erstellte er Lösungsbücher für die frühen Adventure-Games, und weil er mit deren deutschen Übersetzungen unglücklich war, machte er das bald selbst.

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Über diese beiden Stränge kam Vester zur CD-Rom-Produktion bei Ullstein und revolutionierte das bis dato von Programmierern eingesprochene Segment, indem er "Unser Universum" von Herbert Weiker einsprechen ließ, bis zu seinem Unfalltod 1997 die deutsche Stimme von Mr. Spock, den Vester aus seiner Zeit am Theater kannte. Von der Zukunft des aufkommenden Internets überzeugt, machte sich Vester in eben diesem Jahr wieder selbständig, um sich diesem neuen Medium zu widmen. Aus der Datenmüllhalde sollte etwas werden, bei dem die Inhalte zählen: "content counts", also "cc live" nannte er das Unternehmen. Durch den Niedergang der CD-Rom und die bald für jedermann möglichen Internet-Gestaltungsmöglichkeiten landete Vester dann schnell in einer anderen Nische, in der ihm seine Theatervergangenheit wieder nützlich war: bei der Hörbuchproduktion. Eine Altbau-Ladenwohnung in der Kreittmayrstraße wurde das exakt darauf zugeschnittene, atmosphärisch herausragende Tageslichtstudio, in dem Vester von der Aufnahme mit vorgeschlagenen Sprechern und Regisseuren über Mastering und Schnitt bis zur Konfektionierung alles anbieten konnte, was dazu gehört.

Weil andere Firmen mitunter nicht machen wollten, was Vester selbst für gut und nötig befand, fing er schließlich selbst zu produzieren an: Die Werke des dänischen Familientherapeuten Jesper Juul gehören dazu, eine Sachbuchreihe über "Geniale Frauen", aber auch Fantasy von Wolfgang Hohlbein oder Simon R. Green. Ein kleiner Scoop ist Vester mit seinen aktuellen Veröffentlichungen gelungen: Drei Hörbücher mit den letzten, teilweise nachgelassenen Arbeiten des 2015 im Alter von 92 Jahren verstorbenen Psychologen, Psychoanalytikers und Schriftstellers Arno Gruen. Kaum etwas könnte im Zuge der weltpolitischen Irrungen und Wirrungen und des "Kriegs gegen den Terror" aktueller sein als diese Analysen mit den programmatischen Titeln "Wider den Terror", "Wider den Gehorsam" und "Wider die kalte Vernunft", auch wenn die Ergebnisse von Gruens psychologisch-gesellschaftspolitischen Analysen eng mit seiner eigenen Biografie zusammenhängen: 1923 in Berlin als Sohn jüdischer Eltern geboren, erlebte Gruen den Siegeszug des Antisemitismus und Faschismus in Deutschland ebenso hautnah mit wie die Flucht der Familie 1936 über Polen und Dänemark in die USA und die dort gewonnene Freiheit. Man muss nicht alle stark in der kindlichen Entwicklung und der Ausprägung eines autonomen Selbst gründenden Prämissen und Schlussfolgerungen Gruens teilen, doch man wird derzeit kaum einen umfassenderen, beleseneren und klügeren Erklärungsansatz für Aggression und Terrorismus finden. Und einer, der obendrein ein Hörgenuss ist.

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Auch dafür sorgt Vester selbst, als sonorer, klarer und mitdenkender Sprecher. Vor vier Jahren hatte einer seiner Profis Probleme mit dem Französischen eines in Paris spielenden Buches, und da der Presswerktermin schon stand, sprang Vester kurzerhand selbst ein. Herbert Weiker hatte ihm schon seinerzeit gesagt: "Aus deiner Stimme musst du unbedingt etwas machen." Das macht Vester seitdem mit anhaltender Lust und wachsendem Erfolg. Wieder eine persönliche Grenze, die er überwunden hat.

© SZ vom 10.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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