Portät: Anna Netrebko:Wunder singen immer wieder

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Die schöne Sopranistin wundert sich, dass sich alle immer noch auf diese Aschenputtel-Geschichte stürzen. Ja, sie ging putzen, um sich Geld für ihr Gesangsstudium zu verdienen. Aber das ist doch nicht Grund, warum die Welt der Oper heute komplett ausrastet, wenn die begnadete Beauty irgendwo auftritt.

SUSANNE SCHNEIDER

Das Wunder ist krank. Halsschmerzen; aber wenigstens kein Fieber mehr wie gestern. Da musste Anna Netrebko sogar "the sitzprobe" sausen lassen. Und wie viel Sinn hat eine Probe, in der die Sänger zum ersten Mal auf das Orchester treffen, wenn die Titelrolle daheim im Bett liegt? Lucia di Lammermoor, die Tragische.

(Foto: N/A)

Also bemühen sich die Sänger ohne sie. Dorothy Chandler Pavilion, Heimat der Oper von Los Angeles , "zweites Bild, vierter Auftritt: Saal im Schlosse Ravenswood, zum Empfang Lord Bucklaws festlich geschmückt und erleuchtet". Nun, sehr feierlich geht es nicht gerade zu, die Sänger tragen Straßenkleider, einige Mitglieder des Chors lümmeln mangels Stühlen auf dem Bühnenboden, eine Sängerin strickt, eine andere liest Zeitung.

Enrico hat beschlossen, seine Schwester Lucia mit Lord Bucklaw zu verheiraten, doch die liebt den Erzfeind ihres Bruders, Edgardo. Lord Bucklaw, der Bräutigam, hebt an zu singen: "Wo bleibt Lucia?" Dabei kennen alle die Antwort: Ein paar Kilometer weiter, in ihrer Wohnung in La Brea, kuriert sie ihre Grippe. Morgen, lässt Anna, das Wunder, ausrichten, morgen werde sie sich aber gesund genug fühlen, ein Interview zu geben.

Also die Zwischenzeit anders nutzen: In Beverly Hills, wo all die Villen im tadellosen Zuckerbäckerstil stehen, erklärt der Busfahrer, welche Prominenten hier wohnen oder einmal gewohnt haben: Mick Jagger, George Harrison, Bette Midler, Bette Davis, na ja, alle eigentlich. Nur Anna Netrebko möchte nicht aus St. Petersburg wegziehen. Mal angenommen, sie wäre hier in Beverly Hills aufgewachsen und nicht in Krasnodar in Südrussland: Dann wäre sie mit Sicherheit als Dreijährige von ihren Eltern zum Schönheitswettbewerb geschleppt worden, so hübsch ist sie; dann hätte sie mit fünf Gesangsunterricht bekommen, so sehr roch die Begabung danach - und hätte die kleine Anna nicht in Krasnodar, sondern in Los Angeles davon geträumt, später Schauspielerin zu werden, hätten die Eltern wohl jeden Cent geopfert, um sie von einem Casting zum anderen zu chauffieren. Im Krasnodar der siebziger und achtziger Jahre aber hatten Eltern keine Zeit für solche Flausen und schon gar nicht das Geld dazu.

Ihre Kindheit in Südrussland. Keine Spur von einem Wunderkind weit und breit: Vater Geologe, Mutter Ingenieurin, als Kind hasst Anna wie alle gesunden Kinder Opern; sie singt eben im Schulchor, wie hunderttausend andere auch, ihre Musiklehrer loben ihre Stimme, die so spielerisch drei Oktaven umfasst und selbst noch die ganz hohen Töne sicher trifft. Anna: nicht sonderlich beeindruckt, sie will ja Schauspielerin werden. Dann, so mit 17, die Erkenntnis, dass die Konkurrenz bei den Aufnahmeprüfungen zur Schauspielschule zu groß sei. Also beschließt sie, Sängerin zu werden. "Ich dachte: Hauptsache, auf die Bühne." Erst ein halbes Jahr vor der Aufnahmeprüfung für das Konservatorium in St. Petersburg nimmt sie Gesangsunterricht. Anna musste sich ihr Gesangsstudium durch Putzen verdienen: Im Mariinsky-Theater von St. Petersburg, in dem die Kirov-Oper ihre Heimat hat, wischte sie die Böden. Ob sie diesen Teil ihrer Biografie mal loskriegt?

Kein Interview mit ihr, keine Geschichte über sie kommt ohne diese Szene aus. Diese auch nicht. Wenigstens steht hier die Wahrheit, erzählt vom Wunder selbst, am Tag nach der Sitzprobe: "Ich weiß nicht, warum sich alle Leute auf diese Aschenputtelgeschichte stürzen. Ja, ich habe die Böden geputzt, so konnte ich bei den Proben und Aufführungen Opern hören. Aber natürlich bin ich nicht beim Bödenwischen entdeckt worden, wie in so vielen Zeitungen steht, das ist doch völliger Schwachsinn. Ich habe nach meinem Studium am Konservatorium von St. Petersburg Valerie Gergiev vorgesungen, dem Leiter des Kirov-Ensembles, und er hat mich engagiert."

Anna Netrebko, 32, fast zerbrechlich, bildhübsch, braune Knopfaugen, temperamentvoll, supernett, wird als "Wunder" gefeiert, seit sie bei den Salzburger Festspielen vor eineinhalb Jahren die Donna Anna in Mozarts Don Giovanni sang, ihr Sopran "perfekt fokussiert", so schrieb die FAZ. Den Erfolg von Salzburg wiederholte sie vergangenen Sommer lässig. Das Wunder brach besonders heftig herein, weil bei Festspielen wie diesen die Erwartungen weit im Vorhinein feststehen: Stars sollen auftreten und jene Ausnahmemomente schaffen, für die man teuer bezahlt. Und dann kam plötzlich Anna, Anna Who?, sang die Donna Anna, stand da in einem gelben Kleidchen und riss alle in einen Begeisterungstaumel, der bis heute nicht enden will: diese Stimme, dieses Schauspieltalent, so viel Schönheit, so viel Ausstrahlung! Und dieser Glamour.

Es sind ja diese raren Momente im Leben wie in der Kunst, die auch der Oper erst ihren höheren Sinn geben: wenn auf das Publikum jene Leidenschaft überspringt, die die Sänger in ihren Rollen leben; wenn Zuhörer so erschüttert sind, dass sie sich der Tränen nicht erwehren können; wenn alle vom tiefen Wissen erfüllt sind, dass es in diesem Augenblick kein anderes Ereignis auf der Welt gibt, bei dem dabei zu sein sich mehr lohnen würde. Hier und jetzt geschieht es.

Die Kritiker rangen nach Worten, alte reichten nicht, neue mussten her. "Ohrgasmus" schrieb einer, die "neue Callas", schrieben die anderen, "eine moderne Callas" der Rest.

"Schwachsinn", sagt Anna Netrebko mal wieder und fährt artig fort, dass die Callas einmalig war, die Zeit der Diven aber vorbei sei. Man kann den Vergleich mit der Callas aber auch aus ganz anderen Gründen abhaken: Wer hätte sich getraut, zur Callas Maria zu sagen? "Hi, ich bin Anna", stellt sich Anna Netrebko vor und es stimmt, sie ist Anna. Anna, die einen braunen Hausanzug aus Nickistoff trägt; Anna im Liegestuhl am Pool der bewachten Wohnanlage in Hollywood sitzend, in die sie für die Probenzeit eingemietet ist; Anna, die sich auf die Schenkel klopft, wenn sie lacht. Einfach Anna wie du und ich. Nur lacht sie schöner als du und ich: ein, zwei glockenreine Oktaven rauf und wieder runter. Wie geht das eigentlich zusammen - ein so zierlicher Körper und eine so gewaltige Stimme?

Dass Anna Netrebko normal, bescheiden, lustig und ohne Attitüde sei, macht ja schon länger die Runde. Und wenn sie jetzt so dasitzt und erzählt, wie sehr sie ihren Freund vermisst, einen italienischen Bariton, der in Bologna lebt, dann wirkt sie nicht nur anrührend, sondern wischt auch die letzten Zweifel weg, ob ihre viel gepriesene Natürlichkeit gespielt sei. Vielleicht kann eine, die die ganz große, die Weltkarriere macht, froh sein, wenn sie die Wurzeln einer Kindheit in Südrussland unter sich spürt und nicht die einer Kindheit in Beverly Hills.

Letztes Jahr starb Annas Mutter. Wenn Anna heimfährt zu ihrem Vater, dann zeigt er ihr die Zeitungsausschnitte, die er über sie gesammelt hat, und fragt zum Beispiel: "Kind, stimmt das wirklich, dass du singst bis zum Orgasmus?" Und Anna fleht : "Papa, bitte, Papa, glaub doch das nicht alles." Und sie muss lachen, rauf und runter, und die tieferen Töne laufen in dem Satz aus: "Ich bin ein glücklicher Mensch."

Nein, sagt sie, hinter ihrer Karriere stecke kein Wunder, egal wie viel die Leute da auch hineingeheimnissen mögen: "Ich habe halt geübt, geübt, geübt. Gott hat die Stimme gegeben, die Farbe, das Timbre, aber der Rest - und damit meine ich 75 Prozent - ist Arbeit." Was leicht über Bord geht, seit das Wunder über Salzburg hereingebrochen ist: Sie hat ja immerhin zuvor schon neun Jahre gesungen - mit dem St. Petersburger Kirov-Ensemble, dessen Mitglied sie bis heute ist, viele Male an der Oper von San Francisco, in Washington. Nur weil die Kunde ihres Könnens nicht tief bis nach Westeuropa drang, bedeutet das ja nicht, dass sie aus dem Nichts kam.

Inzwischen hat sie überall dort gesungen, wo eine Sopranistin singen muss auf dem Weg nach ganz oben: Wien, München, London, Madrid, an der Scala in Mailand, der Met in New York, sie hat eine CD mit Arien aufgenommen und, egal wo sie auftritt, immer schreiben Kritiker anschließend Sätze wie: "Sie besteht aus jener Killer-Kombination von Stimmvolumen und Sexappeal." Was die Kritiker nicht wissen und nicht wissen sollen: Anna Netrebko kann sie auch dann alle verzücken, wenn sie krank ist. Denn sie sagt vielleicht wegen Fieber eine Probe ab, aber keine Aufführung: "Ich kann auch dann singen, wenn ich wegen einer Erkältung nicht mal in der Lage bin zu sprechen. Ist alles Technik." Dann verrät sie noch, wo und wann ihr das zuletzt passiert sei, aber dieses kleine Geheimnis soll unter uns bleiben, am Pool in Hollywood.

Folgende Begebenheit jedoch durfte die Öffentlichkeit erfahren: Ganz entsetzt fragte ein Journalist der New York Times Anna Netrebko, ob es wirklich stimme, dass sie einmal betrunken war mitten in einer Vorstellung von Die Braut des Zaren. Und druckte Annas Antwort: "Doch, doch, das stimmt. Schließlich hatte ich Geburtstag und man brachte mir Wodka hinter die Bühne und so war ich vollkommen betrunken bei der so genannten Wahnsinnsszene. Es war übrigens die beste Wahnsinnsszene, die ich je gesungen habe. Aber keine Angst. So was passiert nur einmal."

Anders wäre ihr Pensum wohl kaum zu schaffen, ihr Kalender ist für die nächsten drei Jahre voll: "Manchmal kann man nicht nein sagen, manchmal darf man es nicht. Und immer denke ich mir: Gut, dann machst du auch noch diesen Auftritt, aber dann gönnst du dir eine Pause." Und wieder lacht sie glockenhell, nur sehr fröhlich klingt es diesmal nicht. Erschöpft fühle sie sich, leer. "Der Erfolg kam zu schnell, ich kann manchmal nicht begreifen, was da mit mir geschieht. Oft denke ich: Genug, es ist genug. Ich brauche eine Pause. Die Vorstellungen rauben so viel Energie. Und ich gehe immer ans Maximum."

Beim Abschied steht sie am Häuschen des Wachmanns, der ungebetene Besucher von der Wohnanlage fern halten soll. Nun wirkt sie noch privater, noch mehr Anna, ein Mädchen fast, und sagt: "Wenn ich höre, dass schon jetzt, im November, die Warteliste für die drei Vorstellungen von La Traviata im Januar und Februar in München auf tausend Leute angewachsen ist, dann fällt es mir immer noch schwer zu begreifen: Die kommen alle meinetwegen?" Und natürlich ist sie stolz darauf und natürlich kann sie einmal mehr nicht nein sagen, als sie gefragt wird, ob sie noch eine vierte Vorstellung möglich machen könne. Längst ausverkauft auch die.

In München wird sie also die Violetta in La Traviata viermal in elf Tagen singen. Ausgerechnet jene Rolle, von der sie sagt, es sei einerseits unmöglich, mit ihr keinen Erfolg zu haben, "weil du alles zeigen, jedes Register ziehen kannst. Andererseits musst du dafür zahlen, mit allem: Du musst mit ihr leiden, mit ihr sterben, nur dann wirst du wirklich Violetta. Aber du musst auch mit deiner Stimme dafür zahlen, das wird dir jede Sopranistin sagen. Man kann die Violetta nicht fünf- oder achtmal im Monat singen."

Bliebe noch eines zu erzählen: Nach der Premiere von Lucia di Lammermoor schrieb die Los Angeles Times, es gebe nur einen einzigen, wenngleich großartigen Grund, die Vorstellung anzusehen: Anna Netrebko. Der Rest: hölzern, uninspiriert, altmodisch, langweilig. Aber natürlich vergaß der Kritiker bei allem Schwärmen von Anna Netrebko nicht zu erwähnen, dass sie früher die Böden im Mariinksy-Theater geputzt habe.

© SZ-Magazin v. 16.01.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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