Popmusik:Die Venus aus der Discokugel

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Madonna tourt durch Deutschland und gibt dabei ladylike die Schlampe.

Oliver Fuchs

Auf dem Weg zur Düsseldorfer LTU-Arena kommt man an sehr vielen H&M-Plakaten vorbei. An Hauswänden, Bauzäunen, Ausfall- und Umgehungs- und Stichstraßen, ach überall: Madonna. Sie hält das Gesicht hin für ein junges, halbhippes Unternehmen, aber ihr Lächeln wirkt seltsam alt. Großmütterlich. So, als würde sie statt der ultraschicken Trainingsjacke irgendwas Selbstgehäkeltes tragen. Der Großraum Düsseldorf wurde von H&M derart vollplakatiert, dass man vor dem Konzert schon wieder ein bisschen zu viel bekommt von Madonna. Will man die Show wirklich sehen? Ist Madonna nicht eh überall? Kursieren nicht sowieso zu viele Bilder und Geschichten? Langsam reicht's doch mal.

Margot Käßmann, die evangelische Landesbischöfin aus Hannover, hat dem Aufmerksamkeits-Vampir tatsächlich den Gefallen getan, sich im Vorfeld über die - von katholischer und römisch-orthodoxer Seite bereits viel monierte - Kreuzigungsszene zu erregen. Daraufhin kündigte die Staatsanwaltschaft an, die Veranstaltung "genau zu verfolgen". Für die Juristen stand die Frage im Mittelpunkt, ob der Tatbestand der "Beschimpfung und Verhöhnung von Bekenntnissen und Religionsgemeinschaften" erfüllt ist. Die übrigen 45000 Zuschauer, davon darf man ausgehen, wollten etwas ganz anderes herausfinden: Bringt es Madonna noch? Sie ist ja jetzt auch schon 48 und damit nur 15 Jahre jünger als Mick Jagger, dem schon seit langem nahegelegt wird, bitte mal ans Aufhören zu denken.

Am Anfang steigt sie aus einer Discokugel, wie Venus aus dem Meer. Es sieht aus wie eine Geburt. Die Discokugel hat angeblich zwei Millionen Dollar gekostet. Madonna trägt einen schwarzen Reiteranzug von Gaultier, der in jedem Darkroom anerkennende Blicke auf sich ziehen würde. Alles superteuer, superdekadent. Zur Begrüßung streckt sie eine Hand zur Decke: Hier bin ich, schaut mich an, mich, die Frau, die sich selbst geboren hat, die größte Entertainerin der Welt. Es folgt die beste, größte, teuerste, spektakulärste Show der Welt. Das war eh klar. Überraschend ist, dass einen diese Materialschlacht tatsächlich berührt.

Bereits beim Eröffnungsstück "Future Lover" wird gejubelt, dass alles zu spät ist. Wie gern würde man jetzt neben den Staatsanwälten sitzen und zuschauen, wie sie sich mit ernster Miene Notizen machen. Bei "Get Together", Stück Nummer zwei, dürfte ihnen zum ersten Mal der Block aus der Hand gefallen sein. Das Stadion wackelt. Dann: "Like A Virgin". Madonna nimmt auf einem riesenhaften Sattel Platz, schlingt die Beine um eine sehr phallische Metallstange - das sieht angemessen lasziv aus und doch ladylike.

Provokation? Hat Madonna längst nicht mehr nötig! Über solche ihr oft angedichteten Konzepte kann sie vermutlich nur lachen. Statt sich Theoriekram auszudenken, lebt sie auf der Bühne einfach ihre netten Marotten aus, und dazu hat sie als ältere Dame verdammt noch mal das Recht! Das Billige, Schlampige überlässt sie heute lieber den jungen Frauen im Publikum. Es sind nicht wenige 14-Jährige da im viel zu engen Glitzerfummel und in bunt bestickten Hosen, aus denen hinten Tangaslips hervorlugen. Eine Art Huldigung. Madonna hat das alles ja schließlich erfunden. "My style, my music, my dancing", hat Madonna im Jahr 1984 unmissverständlich mitgeteilt, das ergebe eine Mischung, die sich durchsetzen werde.

Kein Konzept, nur Performance

Wer aber nun glaubt, dass Madonna heute überflüssig ist, weil alle ihre Anliegen flächendeckend durchgesetzt sind und ihre Epigonen Pink, Christina Aguilera und Gwen Stefani hinreichend gute Laune und Girl-Power gewährleisten, der braucht nur ihr jüngstes Album "Confessions On A Dancefloor" hören, eine Disco-Euphoriebombe, eine Blendgranate aus reinem Spaß, um zu merken, dass Madonna heute wichtiger ist denn je.

"Spaß", das klingt ja ein wenig banal, nach Partyknabbergebäck. Wie viel Kunstverstand, wie viel Disziplin und Intelligenz nötig sind, um echten Spaß, echte Ekstase herzustellen, das zeigt dieser Abend. Beim Dancefloor-Stampfer "Jump" hechten die Tänzer geräteturnend durch einen Hindernisparcours, klettern Sprossenwände hoch, schlagen rückwärts Salti. Der Kracher "Music" wird halsbrecherisch auf Rollschuhen aufgeführt, und "La Isla Bonita" als Karneval in Rio. Passend zur tropischen Thematik sind auf Großleinwand bizarre Fischmäuler zu sehen und am Ende ein brutal kitschiger Fototapeten-Sonnenuntergang.

Inmitten dieses ganzen Wahnsinns: Madonna. Das Kraftzentrum. Hier stehe ich und tue meine Arbeit, scheint sie zu sagen. Es gibt kein Konzept. Es gibt nur die Performance. Be here now! Metaphysik ist ihr fremd. Deshalb darf man die Kreuzigungsszene auch nicht so interpretieren, wie es Landesbischöfin Käßmann tut: "Sich selbst an die Stelle Jesu zu setzen, auch nur symbolisch, ist eine Selbstüberschätzung ungeheuren Ausmaßes". Nichts liegt Madonna ferner. Der einzige Glaubenssatz, den sie akzeptiert, ist vermutlich: Die Show muss weitergehen. Oder die Schose, je nachdem.

Es gibt bei allem Trubel Momente, die fast intim sind. Madonna nimmt einen Schluck Wasser, hält kurz inne und bedankt sich leise bei ihren deutschen Fans. "You have been so important to me!" Es klingt aufrichtig, fast spontan, als sei ihr plötzlich eingefallen, was sie schon lange mal loswerden wollte. Da begreift man, weshalb sie die meist analysierte Frau der Welt ist, wieso Camille Paglia sie für ihre postfeministischen Zwecke einzuspannen versuchte, und Norman Mailer sie für eher chauvinistische, und woher überhaupt der Drang rührt, Madonna ständig mit Theorien, Konzepten, Ausgedachtem zu überziehen. Sie ist die reine Präsenz. Auf fast provozierende Art: bei sich! Doch die Besinnlichkeit ist nur von kurzer Dauer. Es geht weiter mit Remmidemmi. Am Schluss trägt Madonna einen Gymnastikanzug mit Highheels und tanzt wie eine Dorfschlampe. Der Anzug ist im Gesäßbereich großzügig dekolletiert, weite Teile ihres Pos liegen frei. Absolut geschmacklos. Total genial. Sowas Plumpes und Plattes darf sich wirklich nur eine herausnehmen. Sie, Madonna. Weil sie das alles erfunden hat. Weil es ihr gehört.

Die Staatsanwaltschaft wird übrigens kein Ermittlungsverfahren wegen der "Beschimpfung und Verhöhnung von Religionsgemeinschaften" einleiten. Es liege kein Anfangsverdacht für eine Straftat vor, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Düsseldorf auf Anfrage.

© SZ vom 22.08.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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