Politische Kultur:Unheimlich agil

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Die heroische Silhouette des Autonomen auf dem Häuserdach - ist ein nietzscheanischeres Bild der Selbsterhebung denkbar? Demonstrant gegen den G20-Gipfel in Hamburg im Juli. (Foto: Axel Heimken/dpa)

In Amerika tyrannisieren Aktivisten Hochschulen, in Deutschland geben sie sich als ernstjüngerhafte Alternative zum schafhaften Wahlvolk. Über den Aufstieg einer ziemlich zwiespältigen politischen Figur.

Von Peter Richter

Es gibt Leute, die den deutschen Wahlkampf langweilig fanden: zu wenig Streit, zu viel Harmonie, die Parteien zu nah beieinander, der Gewinner praktisch bekannt. Es gibt allerdings auch Leute, die Sex nur erregend finden, wenn er im Sadomaso-Keller stattfindet. Für die muss das Paradies in den letzten paar Monaten Amerika geheißen haben.

Bevor wir also in die liebe Welt der Wahllokale in bundesrepublikanischen Grundschulen und Altersheimen eintauchen, noch mal kurz ein Blick zurück auf das Land, das über zu wenig Streit, zu viel Harmonie und Kompromissbereitschaft gerade wirklich nichts zu klagen hat, seine gesellschaftspolitischen Tendenzen aber oft zügig nach Europa durchreicht.

Wer sich hier nämlich über die Lahmheit des politischen Betriebs beklagt, darf sich schon mal auf einen Do-it-yourself-Geist freuen, der sich rechtsunten als Bürgerwehr äußert und linksoben als säuberungswütige Hochschulinquisition - das eine demokratisch selbstverständlich so wenig legitimiert wie das andere.

Die Amerikaner lernten in diesem Jahr einen neuen Begriff: Antifa

"Fuck Free Speech" war zum Beispiel etwas, das kurz vor der Sommerpause noch über die Kanäle dröhnte. "Scheiß auf die Redefreiheit", rief da ein junger studentischer Aktivist in das Mikrofon von Vice News, und seine Freunde jubelten wie ein therapeutischer Stuhlkreis in Ekstase. Auf Vice News, die sich mit Reisereportagen aus Nordkorea einen Namen gemacht haben, durfte auch eine Studentin die Hoffnung äußern, dass bestimmte Personenkreise demnächst "ausgemerzt" würden: Der Reporter Michael Moynihan nickte dazu in einer Mischung aus Grusel und Siehste.

Man muss dazu sagen, dass der Mann, der da ausgemerzt werden sollte wie Unkraut auf dem Campus-Rasen, ein Chemieprofessor am Evergreen State College von Olympia in Washington war, der wie ein Inbild des progressiv gestimmten Krawattenverweigerers wirkte. Und für den hielt er sich vermutlich selber, bis er einen Aufruf an alle Weißen, dem Campus für einen Tag fernzubleiben, für nicht die beste aller Ideen im Kampf gegen Rassismus befand.

Ebenfalls erwähnen muss man, dass Moynihan, der Reporter, als wichtige Stimme der Libertären gilt, was nur so ähnlich klingt wie ein Liberaler und in den USA ungefähr das Gegenteil bedeutet. Mittlerweile ist es fast schon egal, aus welcher Ecke der amerikanischen Rechten die Leute kommen, die die Campus-Linke an den Nasenringen durch die Manege zerren.

Das Schema ist seit Monaten gleich: Eine republikanische Hochschulgruppe lädt einen "kontroversen Redner" ein, oft Krawallschachteln wie die Publizistin Ann Coulter oder den ehemaligen Breitbart-Redakteur Milo Yiannopoulos, dann folgen Proteste, Vermummte sprühen Pfefferspray, um "Faschisten keinen Raum" zu geben, und am Ende sagen sie im Fernsehen erstens Danke für die schönen Bürgerkriegsbilder und zweitens: Welche waren jetzt die Faschisten - die, die ihre Versammlungsrechte wahrnehmen wollten, oder die, die sie ihnen mit Gewalt verweigert haben? Anschließend Talkthema Redefreiheit, der heilige erste Verfassungszusatz, der Amerikas Konservativen nicht immer so viel wert war wie der zweite, das Recht auf Waffenbesitz, aber im Moment bietet es sich einfach an.

Denn es ist frappierend, wie bereitwillig ausgerechnet diejenigen, die sich selbst als Liberals bezeichnen, den Begriff der "Free Speech" der Gegenseite ausgeliefert haben, die damit als Kampfvokabel um sich haut. Bis vor ein paar Wochen, als sich die "Free Speech"-Demonstrationen in Charlottesville und Boston als Straßenkampf-Aufzüge von Rechtsradikalen zu erkennen gaben, schien das Kalkül der Rechten oft aufzugehen, sich als Opfer von demokratischen Aktivisten mit defizitärem Demokratieverständnis zu gerieren.

Zuletzt musste die amerikanische Öffentlichkeit jetzt ein Wort lernen, das bisher dort nur an den Rändern ein Begriff war; jetzt ist das eben erschienene "Antifa Handbook" auch für weite Kreise dazwischen das Buch der Saison, und im jüngsten Atlantic Monthly erklärte der Politikanalyst Peter Beinart den Lesern des liberalen Blattes, dass die militante Antifa in ihrer Ablehnung staatlicher Institutionen letztlich nur das Geschäft der extremen Rechten betreibe und die autoritären Tendenzen, gegen die sie vorzugehen vorgibt, eher vorantreibe und selbst verkörpere. Die Frage ist, was passiert, wenn Peter Beinart das nächste Mal zu einer Rede an eine Uni geladen wird.

Die Rechte bedient sich dankbar in der Asservatenkammer der außerparlamentarischen Linken

Und das Bedrückende ist, dass man bei alldem im Hintergrund das krötenhafte Grinsen von Trumps Ex-Berater Stephen Bannon zu erahnen meint. Für ihn läuft alles nach Plan, jedenfalls solange es nicht mal mehr Provokateure von Rechtsaußen braucht, weil die Campus-Aktivisten zur Not auch linksliberale Cordhosenträger zerfleischen. Er hat deutlich genug gesagt, dass er nicht genug bekommen könne von gesellschaftspolitischem Aktivismus, der den Mittelbau der Gesellschaft dermaßen irritiert, bedroht oder zumindest nervt, dass aus lebenslangen Demokraten am Ende doch noch Trump-Wähler werden.

Wer in den letzten Monaten die akademische Welt da drüben ein bisschen beobachtet hat, wurde Zeuge eines bemerkenswerten Unwohlseins, das nach Worten suchte, weil es die Bedrohung eigentlich immer aus einer ganz anderen Richtung erwartet hatte. Denn während in den Niederungen des Internets Saalschlachten toben wie in Berliner Kneipen 1930 ff., wird in universitären Bulletins um Worte gerungen, die ein Dilemma artikulieren sollen, das sie fürchten, nur weiter zu verschärfen.

Da war Anfang des Jahres der zaghafte Alarmruf von John Etchemendy, dem ehemaligen Verwaltungschef von Stanford. Die Universitäten hätten einen äußeren Feind, eine wissenschaftsfeindliche Administration in Washington, so Etchemendy, andererseits aber auch einen inneren Feind, der sie durch intellektuelle Intoleranz noch stärker zu beschädigen drohe als alle Mittelkürzungen und Einreisebeschränkungen, da kaum noch Argumente zum Tragen kämen, sondern sofort der Angriff "ad hominem". Fast flehend erinnerte er daran, dass es nach Aristoteles doch die Rationalität sei, die den Menschen zum Menschen mache.

Rationalität, Wissenschaftlichkeit, methodische Kühle und der Austausch von Argumenten auf der Grundlage von Fakten scheinen aber im Moment von allen Seiten unter Beschuss zu sein. Von Fundamentalisten, die nur bibelgemäße Schulbücher dulden, von Klimawandelleugnern, von Impfgegnern aus dem verschwörungstheorieaffinen Bioladenbürgertum und nicht zuletzt an den Universitäten selbst. Dort geraten allgemein verbindliche Objektivitätsansprüche zunehmend als kolonisierende Setzungen weißer alter Männer in Verruf. Im Frühjahr sprang Ulrich Baer von der New York University den wegen ihrer aggressiv verteidigten Empfindlichkeiten von Konservativen gern "Schneeflocken" genannten Campus-Aktivisten bei und schrieb in der New York Times davon, dass in der Folge des Philosophen Jean-Louis Lyotard die emotionale "persönliche Erfahrung" nun einmal ein Primat über das rationale Argument erlangt habe. Es war dasselbe Frühjahr, in dem die britische Mediävistin Helen Pluckrose denselben Lyotard und seine Vulgarisierer im Online-Magazin Areo deswegen zur Gefahr für die liberale Demokratie und die Moderne an sich erklärte. So oft wie diese Klage durch die Netze geschickt wurde, muss sie bei vielen einen Nerv getroffen haben. (Kein empirisch belastbarer Fakt, nur ein Eindruck, zählt demnach also doppelt.)

Lob also dem Passivisten! Er wägt ab, prüft Fakten und entscheidet ganz cool

Inzwischen ist Herbst, und diese Irritation ist den Sommer über auch diesseits des Atlantiks eingesickert. Könnte sein, dass sie daher rührt, dass es tatsächlich der Phänotypus des Aktivisten ist, der die Themen der Gegenwart besetzt, ohne Rücksichten auf Spießigkeiten wie Mehrheitswillen oder Gepflogenheiten zu nehmen. Politische Aktivisten haben in diesem Jahr eine Kunstausstellung, die Documenta, geprägt und das Weiße Haus, einen Regierungssitz, übernommen. Sie versuchen, eine Rolle in der Migrationspolitik zu spielen, als Seenotretter oder als Grenzwächter wie die sogenannten Identitären. Nirgends steht geschrieben, dass Aktivismus links zu sein hat.

Die Rechte zeigt Lernfähigkeit und bedient sich dankbar aus der Asservatenkammer der außerparlamentarischen Linken. Es wäre sogar zu fragen, ob der Aktivist nicht ohnehin eine stark ernstjüngerhafte Figur ist: Steckt nicht im Aktivismus immer auch ein Ekel vorm konventionell Politischen, Parlamentarischen, vor Kompromiss und passivem Dulden?

Die heroische Silhouette des vermummten Autonomen auf dem Häuserdach - ist ein nietzscheanischeres Bild denkbar für die Selbsterhebung über das schafhafte Wahlvolk, das drunten seine abgefackelten Kleinwagen bejammert? Vielleicht hat sich im Aktivisten ja eine Erinnerung daran erhalten, dass der Wortursprung agere, wie Jean Starobinski in "Aktion und Reaktion" anmerkte, autoritäres Hirtengebaren meint, das Vorantreiben der blökenden Herde. Ganz wunderbares Buch übrigens immer noch. Tröstet mit der Verlässlichkeit der spiralhaften Dialektik von Aktion und Reaktion, Sentiment und Ressentiment.

So kurz vor einem Wahltag ist das vielleicht auch eine Rehabilitation für alle Passivisten - ein Begriff, den es bisher nur im Urban Dictionary gibt, als Schimpfwort für Leute, die ihre politische Willensbekundung mit Facebook-Likes erledigen: Es gibt da alle vier Jahre die Möglichkeit, ohne viel Aufwand am Ende mehr zu bewegen als die aktionistischsten Aktivisten. Es ist die Chance, cool und analytisch abwägend und ohne Schaum vor dem Mund belastbare Fakten und objektive Verhältnisse zu schaffen. Man kann auch ein paar Leute "Fuck" sagen lassen an diesem Abend. So egal und unspannend sind die Alternativen auch gar nicht, schon gar nicht bei den kleinen Parteien. Und die einzige nötige Aktivität ist ein Sonntagsspaziergang. Herrlich, nicht?

© SZ vom 23.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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