Podiumsdiskussion:Offenheit als Schutzschild

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Was ist freies Sprechen, und wie verändert sich die Rede mit der Zeit? Die Nobelpreisträgerin Herta Müller und der Schriftsteller Marcel Beyer haben in Berlin über die Sprache der Gegenwart diskutiert.

Von Tobias Lehmkuhl

Giselher Wirsing. Diesen Namen gibt es wirklich. Der Schriftsteller Marcel Beyer, der ihn am Dienstagabend im Berliner Haus der Kulturen der Welt erwähnte, hat ihn sich weder ausgedacht noch einem humoristischen Gedicht entnommen. Giselher Wirsing war auch keine besonders lustige Gestalt: Er gehörte dem Kreis der Strasser-Brüder an, war Spitzel des SD, von 1938 an Hauptschriftleiter der Münchner Neueste Nachrichten und SS-Hauptsturmführer. Auch nach 1945 verlief Wirsings Karriere ungebrochen weiter. Als Mitbegründer und späterer Chefredakteur machte er die Zeitung Christ und Welt zur auflagenstärksten Wochenzeitung der jungen Bundesrepublik.

Wo kommt das unheilvolle Reden her? Wie wird man sprachlich korrumpiert?

In Christ und Welt prägte er Anfang der Siebzigerjahre eine Wendung, die ihn, der nach seinem Tod 1975 gründlich vergessen wurde, überlebt hat. Als aus der Wannsee-Villa, in der die berüchtigte Konferenz zur Planung des Holocaust stattgefunden hat, eine Gedenkstätte werden sollte, nannte er die geplante Gedenkstätte ein "Denkmal der Schande". Als der AfD-Politiker Björn Höcke diese drei Wörter auf das Berliner Holocaust-Mahnmal anwendete, war die Empörung zu Recht groß. Dass Höcke damit wortwörtlich in einer bestimmten Tradition stand, war, als er es sagte, den wenigsten, war wohl nicht einmal Höcke selbst bewusst.

Dass man Höcke auf Wirsing zurückführen könne, dass die Sprache da eine ganz klare Verbindung herstelle, beruhige ihn für Momente, sagte Marcel Beyer an diesem Abend, der innerhalb der Veranstaltungsreihe "Wörterbuch der Gegenwart" dem Begriff "Sprache" gewidmet war. Denn immer wieder stelle er sich die Frage: Wo kommt das unheilvolle Reden her? Wie wird man sprachlich korrumpiert? Wie wappnet man sich dagegen?

Diese Fragen beschäftigen seit jeher auch die Nobelpreisträgerin Herta Müller, die gemeinsam mit Beyer, und moderiert von der Kritikerin Verena Auffermann, auf dem Podium saß. Ein Gedicht von Oskar Pastior mit dem Titel "schiwwer" diente ihr als Beispiel dafür, wie sich Sprache der Korrumpierbarkeit entziehen kann: Sie müsse maximal offen sein, gerade die Offenheit bilde eine Art Schutzschild gegen den Sprachmissbrauch: "wenn ich einmal groß bin/ werd ich mich heiraten und/ dann wird nicht mehr weh tun// weil ich aber klein bin und/ noch ein wenig kniefrei sein will/ hab ich mich gleich nicht mehr gern (...)"

Pastior zu hören, auf illegal eingeschmuggelten Tonbändern, sei für sie, als sie noch in Rumänien lebte, eine Offenbarung gewesen, sagte Müller. Zugleich aber habe sie erkennen müssen, dass ein solch freies Sprechen nur in einer freien Gesellschaft möglich sei - solange Pastior in Rumänien lebte, habe er eher konventionell gedichtet.

Oskar Pastior und Herta Müller selbst also waren bestes Beispiel dafür, dass Sprache eine lebendige Angelegenheit ist und sich nicht allein aus der Vergangenheit speist. Als Verena Auffermann trotzdem die Befürchtung äußerte, die Sprache der Gegenwart verarme, das Vokabular schrumpfe, musste Marcel Beyer sie korrigieren: Sprache verändere sich, sie werde nur, etwa in Form von Textnachrichten, situativer. Aus diesen Sätzen sprach ein Urvertrauen, das auch Herta Müller, Jorge Semprún paraphrasierend, teilt: Sprache ist nicht Heimat; Heimat ist nur das, was gesprochen wird.

© SZ vom 16.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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