Pars pro toto:Eine Stadt wie ein Überfall

Wie der Osteuropa-Experte Karl Schlögel die Ukraine und speziell Lemberg sieht

Von Antje Weber

Karl Schlögel: Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen Lesung und Gespräch mit Julia Herzberg: Donnerstag, 22. Oktober, 19 Uhr Literaturhaus, Salvatorplatz 1, t 29 19 34 27

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(Foto: Regina Schmek)

Die Bahn in Lemberg, wo es nach Wiener Kaffee und nach polnischem Weihrauch riecht: Sie hat keine Eile, sie zerschneidet nie die trockene, windige galizische Luft - sie taumelt voran. Foto: Regina Schmeken

Die Stadt

Lemberg sei "eine Stadt der verwischten Grenzen", schrieb Joseph Roth 1924. Als Karl Schlögel die westukrainische Stadt in den Achtzigerjahren besuchte, erschien sie ihm mit ihren unzähligen Türmen, Kuppeln, Spitzen und Gebäuden "wie ein Überfall" und in den ständigen Perspektivwechseln als "Urzelle aller europäischen Städte". Geprägt von den Habsburgern, einst eines der größten jüdischen Zentren Mitteleuropas, ist Lemberg, auf Ukrainisch Lwiw, heute stark im Wandel. Die Stadt - auf unserem Bild von Regina Schmeken vor drei Jahren fotografiert - war laut Schlögel eine treibende Kraft auf dem Weg der Ukraine in die Unabhängigkeit und bei den Majdan-Demonstrationen, und sie ist Zufluchtsort für viele Menschen aus der umkämpften Ost-Ukraine. Lemberg, so Karl Schlögel, "will mitspielen in Europa auf der Höhe der Zeit".

Der Autor

Karl Schlögel, 1948 geboren, ist ein ausgewiesener und vielfach ausgezeichneter Experte zum Thema Osteuropa. Er hat in Berlin, Moskau und Sankt Petersburg sowohl Philosophie als auch Soziologie, Osteuropäische Geschichte und Slawistik studiert; bis 2013 lehrte er an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Er hat zahlreiche Bücher geschrieben, die vor allem um das Thema Russland kreisen.

Das Land

Ein Buch über die Ukraine zu verfassen, sei eigentlich in seinem Lebensplan nicht vorgesehen gewesen, schreibt Schlögel ehrlich in der Einleitung zu "Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen" (Hanser). Doch nach Putins "Handstreich gegen die Krim" hatte er das Gefühl, sich "einmischen" und näher mit der Ukraine beschäftigen zu müssen; ein Land, über das selbst Fachleute oft wenig mehr als das "Klischee von den Ukrainern als ewigen Nationalisten und Antisemiten" kennen. Die Ukraine blieb lange "eine Leerstelle im Horizont, ein weißer Fleck, von dem allenfalls Beunruhigung ausging".

Die Idee

Schlögel versucht daher, sich in diesem Buch ein eigenes Bild von der Ukraine zu machen - und zwar über die "Erkundung geschichtlicher Topographien". Speziell die Städte will er in diesem Buch "lesen", ihre Schichtungen "in einer Art urbaner Archäologie freilegen und ihre Vergangenheit so zum Sprechen bringen". Städte wie Lemberg sind für Schlögel "erstrangige Dokumente", denn sie sind "Punkte maximaler Verdichtung geschichtlicher Ereignis- und Erfahrungsräume".

© SZ vom 22.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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