Oliver Sacks:Finale Fallgeschichten

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Oliver Sacks: Der Strom des Bewusstseins. Über Kreativität und Gehirn. Aus dem Englischen von Hainer Kober. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017. 256 Seiten, 22 Euro. E-Book 18,99 Euro. (Foto: N/A)

Das letzte Buch von Oliver Sacks, über die Psyche der Menschen und die blinden Flecke der Wissenschaften.

Von Volker Bernhard

Mit Anschaulichkeit, Begeisterung und Humor schuf der Schriftsteller und Neurologe Oliver Sacks eine ganze Reihe populärwissenschaftlicher Bestseller voller erstaunlicher Fallgeschichten. Die hermetische Erfahrungswelt psychisch Beeinträchtigter wurde durch Sacks für Außenstehende zur Entdeckung. Er zeigte auf bemerkenswerte Weise, wie fragil der Firnis gesellschaftlicher Normalität ist.

Sacks starb 2015. In seinen intensiven letzten Monaten, der Tod war bereits abzusehen, begann er mit einem letzten Buchprojekt, das Essays aus unterschiedlichen Bereichen wie Neurowissenschaft, Kunst, Evolution, Botanik und Medizin versammeln sollte. Seine Mitarbeiter haben dieses Projekt nun fertiggestellt.

Der Wahl-New-Yorker betreibt auch hier keine wissenschaftliche Tiefenschürfung. Sein letztes Werk ist vielmehr eine äußerst persönliche Bilanz seines Schaffens: locker, verspielt, auch schonungslos dem eigenen kranken Selbst gegenüber und voll literarischer Qualität. Die Untersuchung von grundsätzlichen Fragen nach Bewusstsein, Erinnerung und Kreativität wird zu einer Reise durch das eigene Leben und Werk. Sacks schließt dabei seine Fallstudien der letzten Jahrzehnte mit vielfältigen Einflüssen kurz.

Mit nahezu kindlicher Begeisterung lässt er sich von seinen frühen Helden erneut verzaubern: Charles Darwin, dem Botaniker und Orchideenliebhaber, Sigmund Freud, dem Neurologen, und von William James, dem Begründer der amerikanischen Psychologie.

Die Exegese fällt nicht allzu ausführlich aus, diverse Unschärfen sind der Preis für diesen enthusiastischen, subjektiven Blick. Deviantes Verhalten und gestörte Wahrnehmung werden hier wie in früheren Büchern nicht im negativen Licht der Dysfunktionalität betrachtet, sondern sind zunächst einmal Gegenstand des Staunens und Ausgangspunkt des Denkens.

Das letzte Kapitel handelt von Diskontinuitäten und Zufällen bei der wissenschaftlichen Erkenntnis. Sacks beschreibt diverse Fälle, in denen ein rückblickend innovativer Ansatz zunächst über lange Zeit ignoriert wurde. So verschwand etwa das vom "griechischen Kopernikus" Aristarch entworfene heliozentrische Weltbild für über ein Jahrtausend in Vergessenheit. In diesem Kontext spricht er mit Wolfgang Köhler von "einer Art Rumpelkammer", in die jeder Wissenschaftszweig all jene Dinge befördert, die nicht in vorherrschende Denksysteme passen. Auf solche "blinden Flecken" ist Sacks während der Arbeit an seinen Büchern oft gestoßen.

Auch daher, so scheint es, lieferte er im Sinne von Alexander R. Lurijas "romantischer Wissenschaft" über die letzten Jahrzehnte eine Vielzahl an Einzelfallbeschreibungen - mit hohem Einfühlungsvermögen gegenüber den Patienten und einem Blick für bedeutsame Kleinigkeiten.

Oliver Sacks: Der Strom des Bewusstseins. Über Kreativität und Gehirn. Aus dem Englischen von Hainer Kober. Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017. 256 Seiten, 22 Euro. E-Book 18,99 Euro.

© SZ vom 28.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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