Olaf Ihlau und Karl H. Pilny:Tanzende Riesen

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Indiens Wirtschaftsboom erzeugt einen Sog der Superlative, der von der Realität nicht wirklich getragen wird.

Carlos Widmann

Nichts gegen ein Quickie, termingerecht gefertigt zur Frankfurter Buchmesse, deren Schwerpunkt in diesem Jahr bekanntlich Indien ist. Nichts auch gegen das Recycling angejahrter Reportagen: Fast jeder Journalist findet Geschichten in der eigenen, unverwechselbaren Handschrift auch nach Jahrzehnten noch von brennender Relevanz.

Und der Spiegel-Autor Olaf Ihlau mag nicht einmal schuld sein am bombastischen Buchtitel: ,,Weltmacht Indien'' - das geht eigentlich nicht ohne ein Fragezeichen, doch forsche Redakteure und Verleger lieben den Zweifel nicht. Hätte der safrangelbe Schutzumschlag mit dem Gott Shiva einen roten Rahmen bekommen, könnte ,,Weltmacht Indien - Die neue Herausforderung des Westens'' mit einem Spiegel-Titel der Saure-Gurken-Zeit verwechselt werden.

Kaum ein Land der Welt empfiehlt sich seit langem so energisch als Protagonist der Buchmesse wie Indien. Das liegt einmal an der hohen Zahl Englisch schreibender Autoren indischer Herkunft, die, vom Exotenbonus der schuldbewussten Ex-Kolonialmacht Großbritannien profitierend, mit scharfem Intellekt und ausschweifender Phantasie die literarische Szene Londons erobert und als Sprungbrett über den Atlantik und nach Westeuropa genutzt haben. (Die Heimat Bharat Mata, Mutter Indien, suchen viele dieser Schriftsteller eher selten auf.)

Das Interesse an ihrem Land wird auch erwärmt vom Filmkitsch Marke ,,Bollywood'', der aus deutschen Fernsehkanälen quillt und indische Kultur in Volksausgabe bietet. Gleichsam flankierend kommt der Glücksfall hinzu, dass Indien einen Wirtschaftsboom von noch nie gekannter Intensität und Dauer erlebt. In dessen Gefolge sind einige Bücher deutscher Autoren erschienen, die sich ganz legitim um Teilhabe an der Indien-Konjunktur bemühen.

Bizarre Zukunftsbilder

,,Der Aufstieg Indiens zum Liebling der Medien überrascht einige, aber nicht alle'', raunt Karl H. Pilny in seinem ,,Tanz der Riesen. Indien und China prägen die Welt''. Dabei handelt es sich wohl um die Fortschreibung eines früheren Buches (,,Das asiatische Jahrhundert - China und Japan auf dem Weg zur neuen Weltmacht''), dessen Botschaft dem Autor inzwischen korrekturbedürftig erschien. Über Japan nämlich spricht Pilny auf einmal als von einer ,,vormaligen ökonomischen Supermacht''.

Da zeigt sich das Risiko bizarr zugespitzter Zukunftsbilder, die von der jeweils jüngsten Entwicklung ausgehen: Japan hatte sich unter dem bisherigen Premier Koizumi ja längst wieder hochgerappelt, dem Autor aber ist diese letzte Drehung anscheinend entgangen. Indien dagegen, das westliche Reporter jahrzehntelang vornehmlich als Panoptikum angezogen hatte - wo sonst auf der Welt bot sich an jeder Straßenecke der hinreißende Kontrast zwischen Mittelalter und Moderne? - ist über Nacht zum wirtschaftlichen ,,Koloss herangewachsen'' (Ihlau), der ,,in fünfzehn Jahren an Japan und Deutschland vorbeipreschen'' und, erfolgreicher noch als China, zum ,,eigentlichen Herausforderer des Westens'' aufsteigen wird.

Da drängt die Frage sich auf, ob man das nicht eine Nummer kleiner haben könnte. Hochprozentige Visionen, unverdünnt durch aktuelle Zahlenvergleiche, erzeugen einen Sog der Superlative, in dem der Sinn für Proportionen verloren geht. Die ,,Weltmacht Indien'' mit ihren 1,1 Milliarden Einwohnern hatte jüngst noch exakt das gleiche Bruttosozialprodukt wie das 175 Millionen Menschen zählende Entwicklungsland Brasilien. Und die beiden Drittwelt-Riesen Indien und Brasilien erwirtschaften heute - zusammen - noch nicht einmal so viel wie der europäische Problemfall Italien.

Natürlich ändert sich das rapide. Wer nach nur fünf Jahren Abwesenheit wieder in einer indischen Großstadt landet, kann mit bloßem Auge den neuesten, staunenswerten Sprung ermessen. Und Ihlau ist für Vergleiche eigentlich prädestiniert: Er war vor einem Vierteljahrhundert Zeitungskorrespondent in Delhi, ist als Spiegel-Redakteur noch oft in Indien gewesen und soll sogar von Gerhard Schröder einmal als deutscher Botschafter in Betracht gezogen worden sein.

Der Autor bedankt sich bei den Kollegen des renommierten Spiegel-Archivs, die ihm bei der Überprüfung von Zahlen und Fakten geholfen hätten. Ein vergiftetes Kompliment: In ,,Weltmacht Indien'' wird an einer Stelle der ,,konsumfreudige Mittelstand'' auf 250 Millionen Menschen geschätzt, an anderer Stelle auf 300 Millionen, was ,,der Bevölkerungszahl Europas'' entspreche. (In der EU allein leben 450 Millionen.) Beeindruckt nimmt der geneigte Leser zur Kenntnis, dass die Firma Siemens bereits 1867 eine ,,Telefonleitung zwischen Kalkutta und London'' gelegt habe - neun Jahre vor der Erfindung des Telefons durch Alexander Graham Bell.

Wie Ihlau setzt auch Pilny seine Paukenhiebe nicht gerade punktgenau. Er hebt an mit einer Zukunftsvision: ,,Der 15.August 2017 ist ein sonniger Tag. Heute vor 60 Jahren ist Indien unabhängig geworden. Nachdenklich sitzt Rahul Gandhi, der Sohn von Sonia Gandhi, auf dem Balkon des Präsidentenpalastes...''

Man würde dem Autor die prophetische Gabe womöglich leichter abnehmen, wenn er richtig gezählt hätte: Im Jahr 2017 wäre Indien nämlich nicht erst 60, sondern schon 70 Jahre unabhängig. Faszinierend allerdings, welche Kalamitäten von Pilny heraufbeschworen werden müssen, um dem indischen Milliardenvolk bis 2017 im Wirtschaftswachstum einen Vorsprung vor den Chinesen garantieren zu können: ,,Während die Umweltzerstörung Chinas dramatische Ausmaße angenommen hatte und nach der gewaltigen Explosion einer Chemiefabrik in der Nähe Schanghais das gesamte Jangtsedelta für Jahre toxisch verseucht worden war, siedelten ausländische Investoren ihre Projekte nun vor allem in Indien an...''

Tja, Pech für die Chinesen, die obendrein von der in ganz Ostasien sichtbaren ,,Vergreisung der Bevölkerung'' betroffen sein werden; wohingegen Indien - ,,ein Land von pittoresker Intensität'' (Pilny) - sich munter vermehrt und zum ,,jungen und dynamischen Zentrum Asiens'' wird. Auch Ihlau setzt auf die unbezähmbare Fruchtbarkeit der indischen Frau: ,,Bald wird die zweitgrößte Nation der Erde ihre größte sein, wenn Indien mit 1,46 Milliarden Menschen an China vorbeizieht'' - nachdem es wirtschaftlich bereits an Deutschland und Japan ,,vorbeigeprescht'' ist.

Ovationen vor der Entbindungsstation wirken freilich deplaciert: Das Land ist kaum größer als Argentinien (37 Millionen Einwohner), aber abgegrast und fast dreimal so dicht besiedelt wie China. Bereits mit einer halben Milliarde Einwohner galt es als übervölkert; seither hat seine Menschenmasse sich mehr als verdoppelt, und sie wächst derzeit um 20 Millionen im Jahr. Da besteht schon räumlich keine Aussicht, jemals sämtlichen Indern ein menschenwürdiges Dasein im eigenen Land zu bieten.

Zu der fatalen Neigung, im Bevölkerungswachstum vor allem einen Machtfaktor zu erblicken, geht Ihlau an anderer Stelle auf Distanz - und erschrickt vor der ,,beklemmenden Aussicht'', dass in Indien, Pakistan und Bangladesch in 30 Jahren mehr Menschen leben dürften als ,,auf den Kontinenten Amerika, Europa und Australien zusammen''. Er ist wenigstens Landeskenner, und jenseits der Sensationshuberei um tanzende Riesen ist bei ihm viel Anschauliches und Realistisches zu finden - über Tiger und Sadhus, Kastenwesen und Killersekten, Wohltäter und Weisheitlinge.

Glitzernde Wohlstandsinseln

Und was die ,,Weltmacht'' betrifft, gibt Ihlau sich im Innern des Buches bescheidener: ,,Ökonomisch braucht das gewaltige Land wenigstens zwei Dekaden andauernder Dynamik, mit jährlichen Wachstumsraten von über acht Prozent, um wirklich den Status einer Großmacht zu erreichen.'' Solche Kontinuität trauen beide Autoren Indien eher zu als China, weil es eine funktionierende Demokratie ist mit dem Ventil der Wahlen, des Machtwechsels und der Meinungsfreiheit: Anders als Maos zynische Erben müssten die Herrscher in Delhi sich weniger vor blutigen Volksaufständen fürchten, zu denen glitzernde Wohlstandsinseln in einem Meer der Armut allemal die Versuchung liefern.

Die These hat einiges für sich, wenn auch Pilny auf chinesische Öko-Katastrophen spekuliert, um dem indischen Elefanten den Vortritt einzuräumen. Das heikle Umweltthema wird ansonsten von beiden Autoren eher gemieden, vielleicht bewusst: Der Wirtschaftsboom in Indien und China bringt unvermeidlich die Motorisierung auch der breiten Massen mit sich. Was es für den Rest des Planeten bedeutet, wenn eine Milliarde Chinesen und Inder einen Motorroller, einen Traktor, ein Auto oder einen Kleinlaster benutzen, wird nicht einmal angetippt. Die ökologische ,,Herausforderung des Westens'' durch den Drachen und den Elefanten mag gefährlicher werden als die wirtschaftliche.

P.S. Für den anglo-amerikanischen Ausdruck bullshit besitzt die deutsche Sprache eine bewährte Entsprechung: Bockmist. Mit dem Neologismus ,,Bullenscheiße'', einer Schöpfung Ihlaus, ist nichts gewonnen.

© SZ-Beilage vom 04.10.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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