"Der 9. Oktober 1907. Frühes Dunkel fällt über die Straßen, braune Blätter wirbeln leise von den Bäumen, der Herbst geht um in Bielefeld. Aber drüben hinter den Fenstern des schlichten Bürgerhauses in der Kaiserstraße leuchtet eine warme Hoffnung in das trübe Dämmern des späten Tages. Einer jungen Pfarrersfrau ist ein Sohn geboren worden. Der erste. Und als am Sonntag nach diesem Mittwoch die Glocken der Pauluskirche zu Andacht und Gebet rufen, da braust ein Dankchor durch die weite Halle: ,Nun danket alle Gott ...!' Pfarrer Dr. Ludwig Wessel, Prediger an der Pauluskirche in Bielefeld, feiert in stiller Zwiesprache mit seinem Gott die Geburt seines Erstgeborenen. Horst Ludwig ist sein Name."
Als die Westfälischen Neuesten Nachrichten am 7. Oktober 1933 in hymnischen Tönen und einer religiös gefärbten Sprache über den "besten Sohn" der Stadt schrieben, war Horst Wessel ein bekannter Name. Sein für die SA gedichtetes Kampflied "Die Fahnen hoch, die Reihen fest geschlossen" hatten die Nationalsozialisten zunächst zur offiziellen Hymne ihrer Partei und ab 1933 auch zur zweiten Nationalhymne erhoben. Straßen und Plätze wurden nach ihm benannt, ein Segelschulschiff und eine SS-Freiwilligen-Einheit. Horst Wessel war ein nationalsozialistischer Held, ein "Blutzeuge der Bewegung".
Am Abend des 14. Januar 1930 war in Berlin aus nächster Nähe auf den jungen SA-Mann Horst Wessel geschossen worden. Er wurde schwer verletzt und verstarb am Morgen des 23. Februar 1930 im Krankenhaus an einer Blutvergiftung, die er sich während der Behandlung zugezogen hatte. Die kommunistische Rote Fahne titelte nach dem Überfall: "SA-Führer aus Eifersucht umgelegt". Sie nannte Wessel einen Zuhälter, der bei einer Auseinandersetzung im Milieu ums Leben gekommen sei.
Der nationalsozialistische Angriff sprach dagegen von einem kommunistischen Mordanschlag auf den "aktivsten Sturmführer" Berlins und drohte, die "Giftbrut im Karl-Liebknecht-Haus", der kommunistischen Parteizentrale, "dereinst mit Stumpf und Stiel auszurotten, so wie man Ratten oder Wanzen vertilgt".
Der Gauleiter der NSDAP für Berlin-Brandenburg und spätere Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, der Wessel 1929 kennengelernt hatte, besuchte den Schwerverletzten mehrfach im Krankenhaus. Er erkannte das propagandistische Potential des Falles: "Ein neuer Märtyrer für das Dritte Reich", schrieb er am 23. Februar in sein Tagebuch, unmittelbar nachdem er die Todesnachricht erhalten hatte, und begann sogleich, den Verstorbenen als Vorbild für die Jugend und "ganz Deutschland" hinzustellen.
Singen, Brüllen, Prügeln
Wer aber war Horst Wessel? Ein idealistischer Spinner, der sich in radikalen Jugendbewegungen auslebte, oder ein unerschrockener Kämpfer mit klaren politischen Zielen, ein "Sänger und Kämpfer des Dritten Reichs"?
Fest steht, dass Wessel von Kindestagen an mit revanchistisch-nationalen Tönen vertraut war. Sein Vater Ludwig Wessel, seit 1913 Pfarrer an der Berliner Nicolai-Kirche, hatte sich als Militärgeistlicher im Ersten Weltkrieg mit scharfer nationalistischer Rhetorik einen Namen gemacht. "Rassisch grundierter, aggressiver Pangermanismus" sei das Programm des Pfarrers gewesen, urteilte der Historiker Manfred Gailus. Als im Januar 1919 der Spartakus-Aufstand im Berliner Zeitungsviertel tobte, ließ sich Ludwig Wessel zum Vorsitzenden des Reichsbürgerrats wählen, einer antirevolutionären Sammelbewegung.
Nach dem Tod des Vaters, 1922, trat sein Sohn in dessen Fußstapfen. Er träumte von einer nationalen Wiederauferstehung Deutschlands und einer Beseitigung der ungeliebten Republik, die er wie viele auf der politischen Rechten für die Kriegsniederlage und den "Schandfrieden" von Versailles verantwortlich machte.
1922 wurde er Mitglied der Bismarck-Jugend, der Jugendorganisation der Deutschnationalen Volkspartei. Später wechselte er zum Bund Wiking, einer rechtsradikalen Organisation paramilitärischen Charakters. Hinter dem Bund stand die Organisation Consul, die für die Morde an Matthias Erzberger, Walther Rathenau und für weitere Attentate auf demokratische Politiker verantwortlich war. Am 7. Dezember 1926 wurde Wessel Mitglied der NSDAP und der SA.
Traf die Kugel einen, der aussteigen wollte?
Wenige Monate zuvor hatte er sich an der Berliner Universität für Rechtswissenschaften eingeschrieben und war den beiden Burschenschaften "Normannia" und "Alemannia" beigetreten. Schon bald war Wessel eine Führungsfigur der SA in der Hauptstadt, organisierte Ausflüge in die Umgebung und Parademärsche.
Einige der dabei gesungenen Liedtexte stammten von ihm. Er gehörte zur Kriegskindergeneration, die in der Berliner SA überproportional vertreten war: zumeist ungebundene junge Männer zwischen 16 und 30 Jahren alt, die ihre soziale Heimat in der SA suchten. Man traf sich nach der Arbeit in "Sturmlokalen", in deren Hinterzimmern nicht selten Waffenlager angelegt wurden. Der erhebliche Alkoholkonsum, mit dem die "Parteiarbeit" verbunden war, verstärkte die ohnehin latente Gewaltbereitschaft der jungen Männer.
Als Führer des SA-Trupps 34, später "Sturm 5", war der proletarische Berliner Osten Wessels Revier. Prügeleien mit Kommunisten waren dort Ende der zwanziger Jahre an der Tagesordnung. Unter Wessels Führung stieg die Mitgliederzahl des Friedrichshainer SA-Trupps seit Mai 1929 von ursprünglich 30 auf gut 250 Mann an. Im gleichen Jahr brach er das Studium ab.
Im Dezember 1929 verunglückte sein jüngerer Bruder Werner bei einem von Nationalsozialisten organisierten Winterausflug im Riesengebirge tödlich. Horst war "wie vor den Kopf geschlagen", schrieb seine Schwester später. In den nächsten Wochen mied er die SA und ihre Treffpunkte. Wegen seiner neuen Freundin stritt er sich zudem mit Familie und Kameraden. Nicht ausgeschlossen, dass die tödlichen Schüsse einen trafen, der aussteigen wollte.
Das Schicksal des jungen SA-Führers Wessel, der - so die nationalsozialistische Version - wegen seines bedingungslosen Eintretens für die völkische Bewegung und damit die nationale Wiedergeburt Deutschlands von Kommunisten feige ermordet worden war, half den Nationalsozialisten, ihr gewaltsames Vorgehen in der Endphase der Weimarer Republik zu legitimieren. Indem sie die alltägliche Gewalt der Straße als einseitige kommunistische Bedrohung darstellten, konnten sie sich selbst als Vorkämpfer für Recht und Ordnung in Szene setzen.