Der Pascha kümmerte sich um alles, auch um die Kunst, oder was er dafür hielt. Das Bilderverbot im Islam gefiel Mustafa Kemal Atatürk nicht, so wenig wie andere Gesten der Unterwerfung unter die Gesetze der Religion.
Im Zentrum der Macht: Mustafa Kemal Atatürk.
(Foto: Foto: Hulton Archive/ Getty Images)Die Bildhauerkunst sollte man "mit schönen Statuen verkünden", wünschte der Gründer der modernen Türkei. Diese neue Geisteshaltung aber stieß auf heftigen Widerspruch. So legte sich der große Volkserzieher ins Zeug und argumentierte mit den Reiterstandbildern von Kairo und Alexandria. Und seien die Ägypter vielleicht keine Muslime? So fragte der Oberlehrer der Nation 1923 in Bursa sein staunendes Volk. Später schrieb die junge Republik Kunststipendien für München, Berlin und Paris aus, und sie errichtete ganz viele Atatürk-Statuen.
Noch heute sind die Kemal-Bildnisse in der Türkei so häufig, dass Landesunkundige gelegentlich meinen, bei dem inflationär Porträtierten handle es sich um den aktuellen Präsidenten. Wer aber war der Mann, dessen Persönlichkeitsschutz in der Türkei bis heute Verfassungsrang hat, dessen Konterfei in keiner Business-Lounge und keiner Beamtenstube fehlen darf, und der so viele Titel trug, dass der Turkologe Klaus Kreiser allein mit der Nacherzählung der Namen ein ganzes Kapitel seiner gerade neu erschienenen Atatürk-Biografie füllen kann?
Der Kleine-Leute-Sohn
Kreisers Buch kommt passend zum Türkei-Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse heraus, die Mitte Oktober stattfindet. Er greift als exzellenter Kenner türkischer Archive und originalsprachiger Texte weit aus, lässt Atatürk-Gefährten in großer Zahl Revue passieren und konzentriert sich dann doch immer wieder auf das eigentliche Objekt seiner Neugier: auf den 1881 im damals osmanischen Thessaloniki geborenen Kleine-Leute-Sohn, der wegen guter Mathematik-Leistungen auffällt und seine Ausbildung in Militärschulen erhält.
Die dahinsiechende Sultansherrschaft ist der revolutionär gesinnten "Gesellschaft für Einheit und Fortschritt" politisch peinlich. Diesen unruhigen Geistern schließt sich auch der aufstrebende Offizier Mustafa Kemal an, der sich früh zu Höherem berufen fühlt. Aus der Oppositionsgruppe geht das "jungtürkische Regime" hervor, Atatürk aber sucht bald eigene Wege.
Seine große Stunde kommt mit dem Zusammenbruch des alten Reiches. Von Ostanatolien aus organisiert er den nationalen Widerstand gegen die Truppen der Westmächte und das Invasionsheer der Griechen. Deren Traum von Groß-Hellas geht im türkischen Befreiungskrieg unter. Das blutige Ringen wird zum Katalysator für die Gründung der Republik, und der Vertrag von Lausanne sichert die Grenzen des neuen Staates, dessen Territorium die Siegermächte zuvor schon wie beim Würfelspiel verteilt hatten.
Fünf Adoptivtöchter
1923, im Jahr seines Triumphes, heiratet Mustafa Kemal die emanzipierte Latife Usakligil. Die 23-Jährige ließ sich hoch zu Ross ablichten, in engen Hosen, mit Stiefeln und Peitsche. Sie ist gegenüber revolutionären Ideen mindestens so aufgeschlossen wie ihr Gatte. Trotzdem bleibt die einzige Ehe des Egomanen kurz. Im seinem Alltag hatte er keinen Platz für eine fordernde, ehrgeizige Ehefrau. Später scharte er fünf Adoptivtöchtern um sich, über die man leider in keiner Atatürk-Biografie recht viel erfährt.
Aber es sind die Frauen, an denen er früh den Fortschritt misst, und es ist eine Frau, der er schon 1915 in Kampfpausen während der Weltkriegswüterei in Briefen Ungehöriges anvertraut. Corinne Lütfü, die Witwe eines im ersten Balkankrieg gefallenen Offiziers, erfährt aus dieser Korrespondenz, dass Kemal bedauert, nicht "mit den Eigenschaften der Gläubigen ausgestattet" zu sein. Und dass er sich gleichwohl nicht scheut, seine Soldaten mit der Hoffnung auf die vom Propheten versprochenen "Huris, die schönsten Frauen Gottes", in die Schlacht und in den Tod zu schicken.
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