Neu im Kino: "Charlie Bartlett":Der Toiletten-Therapeut

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Hirnlose Highschool-Aschenputtel-Filme gibt es zur Genüge. Jon Polls Erstlingswerk "Charlie Bartlett" ist anders: lustig, skurril und irgendwie trostreich.

Rainer Gansera

Liebe Eltern, Lehrer und sonstige Erziehungsberechtigte, holt eure Merkhefte hervor und notiert: Das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom, kurz ADS, das ihr bei euren Zöglingen mit Psychopharmaka und Therapiesitzungen behandeln lasst, ist in Wirklichkeit euer Problem. Ihr seid hier die abwesenden, überforderten, hilflosen, aufmerksamkeitsunfähigen Kasperl - und ihr solltet das nicht auf eure Kinder projizieren.

Vom Außenseiter zum Kloseelsorger: Schüler Charlie Bartlett. (Foto: Foto: ddp)

"Charlie Bartlett", das Regiedebüt des bislang als Cutter in Hollywood tätigen Jon Poll, ist eine äußerst amüsante und lehrreiche Highschool-Komödie mit Satire-Touch ums ADS.

Ihr 17-jähriger Titelheld (Anton Yelchin) gehört zur Familie der rebellischen Teenager in der Nachfolge von Salingers Holden Caulfield, ein smarter Sprössling aus reichem Haus, ein gewitzter Exzentriker mit Außenseiter-Syndrom. Er muss keine ödipalen Kämpfe ausfechten. Er behandelt die Erwachsenen mit jener Nachsicht, die man launischen Kindern schenkt.

Sympathie ist Nebensache

Gleich die ersten Szenen machen klar, dass es hier glücklicherweise mal nicht um die genreüblichen Paarungen beim Abschlussball und die Prom-Queen-Wahl gehen wird. Charlie fliegt von einer Elite-Privatschule: Er hat Führerscheine gefälscht und an seine Mitschüler verkauft, um so deren Anerkennung zu gewinnen.

"Ich war gerade dabei, akzeptiert zu werden", erklärt er der Mutter (Hope Davis) auf dem Heimweg in der Luxuskarosse. Die Mutter belehrt ihn: "Es gibt wichtigere Dinge, als gemocht zu werden." Und auf die Rückfrage "Welche zum Beispiel?" hält sie nachdenklich inne: "Fällt mir gerade nichts ein."

Es bleibt keine andere Wahl: Charlie muss die örtliche, staatliche, mit "Problemjugendlichen" angefüllte Highschool besuchen, wo ihn die Schüler sogleich als Paria behandeln, als er mit Chauffeur und einem blauen Schulblazer, dem der lateinische Wahlspruch "Herz spricht zu Herz" aufgestickt ist, in Erscheinung tritt.

Auf der Jungs-Toilette taucht der kettenrauchende, drogendealende Oberproll der Schule, Murphy Bivens (Tyler Hilton), Charlies Kopf in die Kloschüssel und tauft ihn so auf seine neue Daseinsform als Aussätziger.

Und plötzlich ist alles so bunt

Später wird Charlie die Boxen der Toilette zum Beichtstuhl umfunktionieren: als der Therapeut und Seelsorger, der den schlangestehenden Mitschülern aus ihren Bedrängnissen heraushilft.

Den Weg dorthin erzählt Jon Poll mit lustvoll aufgefächerter Schärfe. Charlies Psychiater diagnostiziert ADS bei dem Jungen und verschreibt Ritalin, und Charlie, überrascht von der halluzinogenen Wirkung des Medikaments, beschließt, mit diesen Pillen einen gewinnbringenden und sympathiefördernden Handel an der Schule aufzuziehen.

Die Nachfrage steigt sprungartig. Charlie simuliert die Krankheitsbilder, die er bei seinen Mitschülern erkennt (Panikattacken, Suizidgefährdung, Depression) vor diversen Psychiatern und reicht die verschriebenen Pillen weiter - bis er merkt, dass die Medikamente gar nicht das Entscheidende sind, dass die Jugendlichen einfach nur Zuwendung suchen.

So wird Charlie zum Helden der Schülerschaft, gewinnt das Herz der hübschen Tochter des Schulleiters und wird von der Administration misstrauisch beäugt. Typisch, dass der nichts anderes einfällt, als die Schule mit einer Kamera-Überwachungsanlage auszurüsten.

Auch wenn der Tonfall der Geschichte bei der Verwandlung Charlies vom Dealer zum Seelsorger ins Predigerhafte verfällt: Dieser Siebzehnjährige, der das übliche Therapieszenario auf den Kopf stellt und ad absurdum führt, ist eine faszinierende Figur, die mühelos über solche Verflachungen hinwegträgt.

Besonders prägnant sind die Szenen, in denen sich die Hilflosigkeit der Erwachsenen zeigt. Wenn Charlie seiner arglos-abgedrehten Mutter beistehen muss, sich zu ihr ans Klavier setzt und im Duett die Erkennungsmelodien von TV-Familienserien trällert; oder wenn Robert Downey Jr., der gerade erst als cooler "Ironman" die Welt vor ein paar Bösewichtern rettete, als völlig überforderter Schulleiter und alleinerziehender Vater versagt, zur Whiskyflasche und Pistole greift, um sturztrunken das ferngesteuerte Spielzeugboot im Pool zu beschießen.

Für die Mitschüler ist Charlie der Katalysator, der das bessere Ich zum Vorschein bringt. Aus dem Flittchen und dem Schläger der Schule macht er ein romantisches Paar, aus dem von Panikattacken heimgesuchten Einzelgänger einen Bühnenstar.

Der Cat-Stevens-Song "If you want to sing out, sing out" erklingt leitmotivisch. "Charlie Bartlett" spielt im heutigen Connecticut, wird aber von einer sanften Brise Siebzigerjahre-Hippie-Spirit durchweht. Charlies Zaubermittel ist jederzeit verfügbar: Er kann zuhören, er kann seine Aufmerksamkeit anderen schenken.

CHARLIE BARTLETT, USA 2007 - Regie: Jon Poll. Buch: Gustin Nash. Kamera: Paul Sarossy. Mit: Anton Yelchin, Robert Downey Jr., Hope Davis. Central Film, 97 Minuten.

Außerdem laufen an:

La Paloma, von Sigrid Faltin Ruinen, von Carter Smith

© SZ vom 26.6.2008/mst - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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