Netz-Depeschen:Das bisschen Denken

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Die Revolution der Heimarbeit: Ungelernte Digital-Tagelöhner bieten im riesigen Bienenstock namens Internet ihre Dienste feil. Das Prinzip Ausbeutung wird weitergeschrieben und perfektioniert.

Michael Moorstedt

Bei dem Objekt PSR J2007+2722 handelt es sich um einen 17.000 Lichtjahre entfernten Neutronenstern im Sternbild Fuchs. Das Wissen um seine Existenz verdankt die Menschheit drei Computerbesitzern aus Deutschland und den USA, die ihre Rechner an das Netzwerk Einstein@Home angeschlossen haben, um dort Daten des Arecibo-Radioteleskops in Puerto Rico auszuwerten. Reiner Forscherdrang treibt die Nutzer an, einen Teil ihrer nicht benutzten Prozessorkapazität der Astronomie zu Diensten zu stellen.

Der Lohn für die neue Heimarbeit, der die Menschen über das Internet nachgehen, reicht kaum aus, um den Internetanschluss zu bezahlen. Auch nicht besser als das Nähen in einer kubanischen Kleinstadt. (Foto: AP)

Crowdsourcing nennt der wortspielverliebte Fachjargon das Prinzip, die Lösung eines Problems einer möglichst großen Masse von möglichst kostenlos arbeitenden Internetnutzern zu überlassen. Mehr als 50.000 Menschen stellen einen Teil ihrer Freizeit dem Projekt Foldit der Universität des Bundesstaats Washington zur Verfügung. In einer Art Videospiel lösen die Teilnehmer die komplizierten Faltvorgänge von Proteinen. Und sind dabei, wie Nature in der vergangenen Woche berichtet, effizienter als Computeralgorithmen.

Das Distributed-Computing der Astronomen oder Foldit sind dabei nur zwei Projekte unter vielen. Nicht immer ist es reiner Altruismus, der Crowdsourcing befeuert. Die Massen arbeiten auch in die eigenen Taschen. Der Versandhändler Amazon bietet mit seiner Plattform Mechanical Turk seit einigen Jahren eine Art Marktplatz, auf dem die ungelernten Digital-Tagelöhner im riesigen Bienenstock namens Internet ihre Dienste feilbieten können. Die sogenannten Human Intelligence Tasks (HIT), für die man sich dort bewerben kann, erfordern kaum geistige Arbeit. Ein Mindestmaß an Mitdenken ist aber doch nötig, deshalb fallen Computer aus.

Aus zweierlei Gründen scheint Grund zur Freude zu bestehen: Zunächst ist da schlicht die beruhigende Tatsache, dass sich der Mensch noch nicht komplett selbst überflüssig gemacht hat. Zum zweiten bieten die repetitiven Aufgaben für den notorisch gelangweilten Menschen der Gegenwart die Möglichkeit, auch noch Geld zu verdienen, in der Zeit, während der er sonst nur Löcher in der Luft produziert hätte. Mancher Kommentator nannte Mechanical Turk oder ähnliche Plattformen wie Elance oder YouGov gar die Revolution der Heimarbeit.

Stewart Mitchell, Autor der britischen Zeitschrift PC Pro, hat diese Behauptungen in der vorigen Woche einem Praxistest unterzogen. Er verdingte sich für einige Tage auf den Seiten von Amazon und seiner Konkurrenz, um selbst herauszufinden, wie viel Geld sich beispielsweise mit dem Zuordnen von Adressen oder dem Beantworten von Fragebögen verdienen lässt. Mitchell wurde schnell ernüchtert. Zumeist waren es Cent-Beträge, die ihm ein einzelner HIT einbrachte. Und natürlich verlangen die Plattformen eine Provision für ihre Vermittlung.

Die Auslagerungstendenzen der globalisierten Wirtschaft scheinen sich im Netz zu reproduzieren. Mehr als ein Drittel der Mechanical-Turk-Arbeiter kommt laut einer Untersuchung der New York University mittlerweile aus Indien. Beinahe die Hälfte der Befragten gab an, mit der Online-Schufterei bei durchschnittlich fünf Stunden in der Woche weniger als fünf Dollar zu verdienen. Das Prinzip Ausbeutung wird im Netz weitergeschrieben und perfektioniert, Mindestlohn ist nur noch eine Legende. Stewart Mitchell schreibt, der Lohn reiche kaum aus, um die heimische Stromrechnung zu bezahlen. Geschweige denn die Kosten für den Internetanschluss.

© SZ vom 16.8.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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