Netz-Depeschen:Der Sozialradar geht um

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Zeitgeisterfassung 2.0: Wenn wir online unsere Meinung kundtun, ist das längst nicht mehr privat. Die Stimmen der Massen werden fleißig ausgewertet - und zum Spiegel der Gesellschaft erklärt.

Michael Moorstedt

Von Deutschland mal abgesehen - wie sieht eigentlich das globale Stimmungsbild in Sachen Atomkraft aus? Vor dem Unglück in Japan äußerten sich noch drei Viertel aller erfassten Beiträge positiv zur Kernenergie, besagt eine Analyse in sozialen Netzwerken: Kurz danach ist die Stimmung umgeschlagen - zwei Drittel aller Beiträge waren ablehnend.

Bei einem Flashmob gegen Atomkraft ist die Meinung der Demonstranten sichtbar. Wenn sich Gleichgesinnte im Netz treffen, ist diese virtuelle Stimmung immerhin statistisch erfassbar.  (Foto: dapd)

Für die Meinungsbefragung wurden 40 Millionen Stimmen im Netz ausgewertet. Ein vergleichsweise kleiner Anteil, denn das Unternehmen Infegy mit seiner Analyse-Software "Social Radar" erfasst über neun Milliarden sogenannte Konversationen in verschiedenen Plattformen wie Facebook oder Twitter. Jede Minute kommen mehr als 12000 neue Beiträge hinzu, was manchmal fast einen Blick in die Zukunft erlaubt. So konnte Infegy in den vergangenen vier Jahren den Ausgang des Super Bowl richtig voraussagen, genau wie den Oscar für den Film "The King's Speech".

Es ist also nicht die Weisheit, sondern das Gebrabbel der Masse, das den Ausschlag gibt. Enorm viel Gebrabbel: Weltweit werden täglich 155 Millionen Tweets abgeschickt. Diese Datenbank wird nun angezapft. Mit der geeigneten Software wird die Plattform zu einer Antwortmaschine, denn ein einzelner Beitrag auf der Plattform besteht aus weit mehr als den bekannten 140 Zeichen. Bis zu 40 Metainformationen - darunter der Name des Nutzers und die Anzahl seiner Follower, auch Zeitzone, Sprache, Land und Ort, in denen die Nachricht verfasst wurde werden mitgespeichert.

In der vergangenen Woche hat Twitter nun den Zugriff auf seine Datenbank für die Marketingabteilungen geöffnet, ein Grauen für Datenschützer. Doch es ist wahrscheinlich nicht der einzelne Nutzer, der ausgespäht werden soll - es ist vielmehr die Gesamtheit der User, die für die Analysten bedeutungsvoll ist. Um eine Stunde lang das Rauschen im Netz abzuhören und nach mehreren Tausend Suchbegriffen filtern zu dürfen, zahlen Kunden etwa 30 US-Cent. Ein Spottpreis.

Wie konsistent die erfassten Stimmungsbilder wirklich sind, bleibt abzuwarten. Die Summe aus Millionen Stimmen mag zwar erstaunlich präzise sein. Weniger erstaunlich ist, dass diese Stimmen auch einigermaßen schnell wieder vergessen, was sie noch vor kurzem von sich gegeben haben. Nicht mal eine Woche nach dem Unglück in Japan hat sich die Stimmung im Netz wieder zugunsten der Kernenergie verschoben. Tendenz: stark ansteigend.

© SZ vom 11.04.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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