Netz-Depeschen (16):Sonst stirbt die Zeit

Lesezeit: 2 min

Lärm des Alleinseins: Eine kleine Tour zur verstörendsten Homepage der Gegenwart und weiteren Marksteinen der Netz-Kunst.

Christian Kortmann

In diesen Tagen ist die Kunstwelt aufgeregt zwischen Venedig und Kassel, Münster und Basel unterwegs, den Stationen, die neuerdings eine "Grand Tour des 21. Jahrhunderts" bilden.

Manch Verhinderter versucht, im Netz auf Bildungsreise zu gehen und einen Eindruck vom Kunstspektakel zu bekommen, stellt aber schnell fest, dass es sich um recht analoge Veranstaltungen handeln muss. Denn die langweiligen Websites von Grand Tour, Documenta und Biennale beschränken sich auf informierende, katalogisierende Funktionen, als hätte man Tourismusbroschüren eingescannt.

Flash-Animationen und andere Mittel des Internet, die genuine ästhetische Erlebnisse vermitteln können, werden nicht genutzt. Deshalb hier eine alternative Petit Tour zu Marksteinen der Netz-Kunst.

Zum spielerischen Einstieg schauen wir auf Miltos Manetas' Hommage-Seite für Jackson Pollock vorbei. Ohne die eigene Wohnung zu verwüsten, kann man hier als Action Painter tätig werden: Einfach mit der Maus über den weißen Bildschirm fahren, schon füllt er sich mit Farbtropfen, und ein Dripping-Gemälde entsteht, ein Klick ändert die Farbe. Die Seite kommt ohne Sprache aus. Dieser digital-epigonale abstrakte Expressionismus ist mehr als zweckfreie Zeitverbrennung. Denn das Netz wirkt erstaunlicherweise in den Momenten künstlerisch, in denen es anstatt Sprach- und Bilderflut Ressourcen von Ruhe und Leere bereit hält.

Im "Second Life" ist es ja auch am interessantesten, endlos über Ozeane zu fliegen oder Wüsten aufzusuchen, in einer überbevölkerten Welt also menschgemachte Menschenleere zu finden.

Für wie viele Räume halten die Nerven?

Eine unheimliche Einsamkeitserfahrung vermittelt das Projekt "99 Rooms". Man betritt brach liegende Fabrikhallen, die Ostberlins Industriegebieten nachgebildet sind. Eine Schnecke kriecht über die Schwelle, Türen öffnen sich krachend. Bedrückender Lärm des Alleinseins schwillt an, tiefe, scheppernde Geräusche, wie sie einen nachts im Bett aufschrecken. Mit dem Cursor bewegt man sich durch die Räume, neue dunkle Höhlen öffnen sich, die Szenerie erinnert an die Mysteryserie "Lost" und Kino-Alpträume von David Lynch.

Man muss Objekte suchen, die neue Geheimgänge öffnen: Eine gemalte Blume erbricht sich aus dem Blütenkelch, animierte Graffitis des Künstlers Kim J. Köster zittern an den Wänden, Neonröhren flackern sirrend: Für wie viele Räume halten die Nerven?

Danach ist man bereit für "Conclave Obscurum", die verstörende Homepage von Oleg Pashenko aus Moskau. Auf der Startseite tickt hektisch eine Uhr aus surrealen Schädeln. Nun muss der User reagieren, sonst stirbt die Zeit, er weiß aber nicht, was zu tun ist und findet sich auch in der rätselhaften Navigation nicht zurecht. "Conclave Obscurum" schenkt einem überraschende Effekte, lässt einen aber mit seinen Fragen allein.

Dieses Kunstwerk will erarbeitet werden, ist ein faszinierend archaisches und modernes Puzzle zugleich. Ein Webdesigner zeigt hier, was möglich ist: Durch die völlige Verweigerung von Orientierung und Service gelingt ihm der Beweis, dass das Netz eine eigene Sprache sprechen kann, die eine neue Lektüretechnik erfordert. Der User taucht in diese Literarizität des Netzes ein und macht die ästhetischen Erfahrungen, die ihm die profanen Seiten von Documenta oder Grand Tour vorenthalten.

© sueddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: