Neil Diamond im Interview:"Ich bin mit heißem, blutendem Herzen dabei"

Lesezeit: 14 min

Der Mann mit der unvergleichlichen Stimme wollte Lieder eigentlich nur schreiben. Glücklicherweise hat er das nicht getan. Im Interview spricht er über Familienbande, politische Songs und einen Tag am Meer.

Von Alexander Gorkow

Arch Angel Recording Studios in Los Angeles, eine legendäre Adresse. 28 Grad. Sonne. Von außen einer der in Beverly Hills üblichen, unprätentiösen Zweistöcker. Natürlich kein Schild. Weißer Beton. Verspiegelte Fenster. Neil Diamond und Rick Rubin sind in den letzten Zügen für die neue CD. In der Aufnahmehalle sitzt die feixende Band, drum herum winzige Büros, Papier- und Kabelsalat. Neil Diamond kommt mit Hemd aus der Hose, Jeans, Brille. Er hat eine Pappe mit Salat und eine Plastikgabel dabei. Für das lange Gespräch opfert er die Mittagspause. Ein ernster und feiner Mensch - der jedes Wort überdenkt und gerne auch mal welche weglässt. Er fordert zunächst dringend eine Untertasse für den Pappbecher mit dem Kaffee des Gastes an. Erst jetzt dürfen wir beginnen.

SZaW: Mister Diamond, eine Notiz im Archiv besagt, dass Sie es einstmals mit einem Künstlernamen versuchen wollten.

Neil Diamond: Das war nicht unüblich.

SZaW: Um ehrlich zu sein: Ich war sicher, Neil Diamond sei ein Künstlername.

Diamond: Tatsächlich?

SZaW: Natürlich. Ein Diamant?

Diamond: Also, als Junge in Brooklyn aufzuwachsen und Diamond zu heißen . . .

SZaW: . . . ein fabelhafter Name . . .

Diamond: . . . nein, Sie täuschen sich, das war ein gewöhnlicher Name für einen jüdischen Jungen, kein glamouröser. Das war nichts Besonderes. Dazu kam der dumme Vorname: Neil. Neeeeeel.

SZaW: Neil ging auch nicht?

Diamond: Die anderen Kinder im Block riefen: ,,Neeel, Neeel, ya daddy is in jeeel.''

SZaW: Jeeel für Gefängnis?

Diamond: Ja, für Gefängnis.

SZaW: Hm, jeeel statt jail . . .

Diamond: Kein guter Reim. Aber er sollte ja auch nicht gut sein. Sondern wirken. Ich höre ihn bis heute noch . . . diesen bösen Chor.

SZaW: Nun aber kommt der Knaller - nämlich Ihr Künstlername: Noah Kaminsky!

Diamond: Oh, hm . . . mein Gott.

SZaW: Sie hatten es vergessen?

Diamond: Fast. Noah Kaminsky - ja, so nannte ich mich eine Weile. Bevor ich meine erste eigene Platte aufnahm.

SZaW: Wie kommt man auf Noah Kaminsky?

Diamond: Sie meinen, der Name ist nichts, von heute aus betrachtet?

SZaW: Noah Kaminsky klingt wie . . . ich sehe in Gedanken ein Schild in Brooklyn, über einem Imbiss. Einem polnischen Imbiss. Und drüber steht: NOAH KAMINSKY

Diamond: Hm . . .

SZaW: Nur zum Beispiel meine ich.

Diamond: Sie müssen es anders aussprechen: Noah (Pause) Kaminsky. Die Betonung auf der zweiten Silbe: KaMINsky. Dann klingt es. KaMINsky! Sie müssen es schwingen lassen. Nun ja. Ich dachte damals, wenn sich der liebe Art einfach Garfunkel nennt, dann nenne ich mich Noah und Kaminsky. Es klang für mich wie . . .

SZaW: Hollywood.

Diamond: Ja. Hollywood. Vielleicht.

SZaW: Was war der Grund, dass Sie 1966 den Song "Solitary Man" dann unter Ihrem richtigen Namen veröffentlichten?

Diamond: Meine Familie war der Grund. Eine wirklich ziemlich private Geschichte.

SZaW: Erzählen Sie sie?

Diamond: Ich weiß nicht. Vielleicht ist sie gar nicht interessant? Aber es hat mich, glaub' ich, auch noch keiner gefragt, wieso ich nicht mehr Noah Kaminsky heiße . . .

SZaW: . . ich bin sicher, dass sie interessant ist.

Diamond: Ich ging damals in Brooklyn sehr oft ins Krankenhaus. Da lag meine Großmutter. Ich hab' sie da besucht. Sie war lange schon krank. Der Punkt ist: Ich liebte sie sehr, wirklich sehr. Sie war eine Art . . .

SZaW: Idol?

Diamond: Ein Idol, ja. Eine starke und liebe Frau.

SZaW: Sie lag im Sterben?

Diamond: So ist es. Für mich war das unglaublich. Ich besuchte sie also wieder und wieder, ich saß an ihrem Bett und war traurig, na, Sie können sich's denken. Parallel dazu ergab es sich, dass ich meinen ersten Song veröffentlichte: meine Platte, mein Lied, mein Name. Die Leute können es kaufen! Es wird im Radio laufen! Und vor allem: Ich hatte es nicht für jemanden anderen geschrieben, wie all' die Songs zuvor - ich sang selbst! Okay?

SZaW: Das war "Solitary Man".

Diamond: "Solitary Man", ja.

SZaW: Hat Ihre Großmutter den Song gehört?

Diamond: Ich war besessen davon, Großmama die Platte zu bringen, bevor sie stirbt. Dass wir sie vielleicht noch zusammen hören. Ich wollt' ihr zeigen, was ich geschafft hatte, ihr eine Freude machen.

Lesen Sie auf Seite 2 weiter, warum Neil Diamond schlechte Kritiken egal sind

SZaW: Und das haben Sie noch geschafft?

Diamond: Ja. Dass die Zeit dazu noch gereicht hat, das werde ich nie vergessen. Das bleibt einer der . . . ja, Punkte in meinem Leben. Ich war damals erst in meinen 20ern.

SZaW: Das ist eine bewegende Geschichte.

Diamond: Eine für mich bewegende Geschichte, ja, eine entscheidende Geschichte. Und da sind wir bei Noah Kaminsky. Damals fragte mein Agent, welchen Namen wir auf die Platte schreiben sollen, und ich sagte: "Was fragst du? Neil Diamond." Diamond ist der Name meiner Familie. Und wie hätte Großmama geschaut, wenn ich ihr meine Platte gebe, ein Foto von mir ist drauf, und da steht: "Solitary Man - Noah Kaminsky." Ich hätte ja den Familiennamen verleugnet! Verrückt!

SZaW: Die Musikgeschichte ist voll von jungen Männern, die so bizarr weise Lieder schreiben. Auch "Solitary Man" klingt wie das Lied eines Alten, der keine Illusionen mehr hegt, weil er alles schon erlebt hat mit den Frauen, "part time thing - paper ring", so bitterweise Zeilen . . .

Diamond: Hm, finden Sie?

SZaW: Ja, ich meine, Sie waren noch jung.

Diamond: Ich hatte schon lange als Songschreiber gearbeitet, das dürfen Sie nicht vergessen. Man konnte mich mieten. Die Firma rief an und sagte: "Neil, der Soundso braucht einen Song im mittleren Tempo - mach uns einen!" Das waren die frühen Sechziger, das war die Zeit, bevor man mir selber zutraute zu singen.

SZaW: Waren Sie damals wirklich so einsam?

Diamond: Jeder Journalist fragt mich das.

SZaW: Womöglich liegt es auf der Hand?

Diamond: Womöglich. Jedenfalls wollen Journalisten mit mir immer über die Einsamkeit sprechen, glaube ich. Seit 40 Jahren.

SZaW: Vielleicht treffen Sie da einen speziellen Punkt bei vielen Journalisten . . .

Diamond: Ein interessanter Gedanke.

SZaW: Jedenfalls langweilt Sie das Thema.

Diamond: Na, nur ein wenig vielleicht.

SZaW: Sie sehen auf diesen alten Fotos auch traurig aus. Gut und traurig.

Diamond: Gut? Also traurig, ja . . . ist mir neulich auch aufgefallen. Der Grund ist profan. Ich habe es einfach immer gehasst, fotografiert zu werden. Ich hasse es immer noch. Es gehört aber zum Job.

SZaW: Sie geben auch kaum Interviews.

Diamond: Fast nie, nein. Aber bitte, sicher nicht aus Unhöflichkeit! Ich denke nur immer: Die Leute haben die Musik - was soll ich noch viel sagen? Verstehen Sie?

SZaW: In "I Am, I Said" singen Sie, dass Ihnen niemand zuhört, wenn Sie sprechen, nicht einmal der Stuhl im Zimmer - was ich ja besonders rührend finde.

Diamond: Ich bin nicht gerne alleine, nie gewesen, ich mag es nicht. Es waren die frühen Siebziger, und ich erinnere mich, dass ich mich nie einsamer fühlte. Ich kann heute alleine sein und nicht einsam. Damals war ich nie allein, aber wirklich oft sehr einsam.

SZaW: Sie singen im selben Lied vom Frosch, der zum König geworden ist und nun auch nicht sonniger in die Welt schaut - und dass es Ihre Geschichte ist.

Diamond: Ja, und das mit dem Frosch hat noch eine andere Bewandtnis! Nämlich die vom sprichtwörtlichen frog in the throat. Ich litt als Kind unter einer Sprachstörung, meine Stimme versagte, das hat mich gepeinigt, meine Mum rannte mit mir zu den Ärzten, ich saß da 'rum und räusperte mich stundenlang.

SZaW: Eine Tragödie.

Diamond: Von heute aus betrachtet: eher eine Tragikomödie. Damals aber war's die reine Tragödie. Ich war ja ein Kind.

SZaW: Sie haben Ihrer Stimme auch später nie so viel zugetraut wie Ihre Fans.

Diamond: Richtig. Inzwischen höre ich, sie sei schön. Und ich denke aber immer noch, Menschen, die meine Songs sangen, Barbra Streisand, Cash, Sinatra, dass die so sehr einzigartige Stimmen haben.

SZaW: Sie haben einen einzigartigen Bariton, man erkennt Ihre Stimme sofort.

Diamond: Ich danke Ihnen.

SZaW: Beneiden Sie einige Interpreten um deren Versionen Ihrer Songs?

Diamond: Ja, ja. Johnny Cashs "Solitary Man" hat mich sehr tief berührt. Er war bei dieser Aufnahme exakt der alte Cowboy, von dem Sie eben sprachen. Und er sang aber einen Song, den ich als junger Mann geschrieben habe. Das ist tatsächlich sonderbar. Und Frank (Sinatra, die Red.), wie er "Sweet Caroline" sang, das war, mein Gott, großartig. Frank, ja. Leider war seine Version besser als meine - oder?

SZaW: Mit Barbra, die Sie später bei "You Don't Bring Me Flowers" begleitete, sangen Sie im Schulchor. Ein schüchterner Junge und eine sehr expressive Lady?

Diamond: Ich nehme an, da liegen Sie nicht sooo falsch. Ich erinnere mich nur vage. Das war auf der Highschool. An den Chorleiter erinnere ich mich. Ein beeindruckender, gut aussehender Kerl. Wir Jungen hatten gottverdammte Angst vor ihm.

SZaW: Und die Mädchen?

Diamond: Das liegt auf der Hand, oder?

SZaW: Heißt?

Diamond: Die versuchten, ihn 'rumzukriegen.

SZaW: Mister Diamond, sind Sie nicht durchgedreht, wenn sich Leute wie Frank Sinatra später Ihre Songs aussuchten?

Diamond: Nein! Ich bin, je nach dem Ergebnis, sagen wir: zufrieden gewesen.

SZaW: Man kann das nicht einfach genießen?

Diamond: Nein, nein. Schauen Sie: Ich bin Songwriter gewesen, ich habe für andere Leute Songs geschneidert und dann Geld dafür bekommen. So funktionierte die Welt. Ich war deshalb immer ein wenig anders als Leute, mit denen ich arbeitete, als Robbie Robertson, als Bob Dylan . . .

SZaW: Inwiefern?

Diamond: Vielleicht immer schon ein wenig aus der Zeit gefallen? Ich weiß es nicht. Fleißig. Gewissenhaft. Ich tat meine Arbeit.

SZaW: Wie wirkte sich das auf Sie aus?

Diamond: Na, es war damals zum Beispiel so, dass die Leute ausflippten wegen der Invasion von Bands aus England: die Beatles spielten im Sommer 1966 im Shea Stadium in New York, die Rolling Stones kamen, die Who. Großartige Bands - alle mit einem, nun ja, lauten Image. Sie verstehen?

SZaW: Und Sie?

Diamond: Die Typen bei Atlantic, die sagten: Mmh, Neil Diamond, ein Typ mit seiner Gitarre singt Lieder über die Einsamkeit - hatten wir den nicht schon? Hieß er nicht Elvis? Soll Neil nicht lieber weiter Songs bei richtigen Sängern abliefern?

SZaW: Sie saßen zwischen den Stühlen, oder? Sie waren nicht der neue Elvis, Sie waren nicht so frech wie die Beatles, Sie waren nicht so politisch wie Bob Dylan . . .

Diamond: Vielleicht. Aber was ist politisch? Welche Songs von Dylan, die wir heute verehren, sind explizit politisch?

SZaW: Wenn Sie kritisiert wurden, dann so: Neil Diamond ist middle-of-the road. Er singt schmalzige Lieder. Und so weiter.

Diamond: Ja, aber das waren halt die Sachen, die in Zeitungen standen. Das war nie wichtig.

SZaW: Das hat Sie nicht getroffen?

Diamond: Absolut nicht. Ich war ein Junge aus Brooklyn, der Geld verdienen musste. Ich musste es, okay? Ich konnte mir nicht erlauben zu versagen. Und ich hatte es raus. Gute Arbeit wird nicht von Kritikern erkannt. Sondern vom Publikum.

SZaW: Was meinten Sie mit: Was ist politisch?

Diamond: Ich meine, dass große Songs, Songs, die bleiben, nur selten eine Botschaft haben wie "Leute, raus aus Vietnam!" oder so was. Auch die großen Songs von Bob (Dylan, die Red.) nicht. Ein großer Song zielt nicht auf eine Wahlempfehlung, er zielt auf dich. Ein großer Song geht dezidiert ans Eingemachte, es geht um Liebe, Hass, Rache, Heimweh, Sehnsucht . . .

SZaW: . . . Einsamkeit . . .

Diamond: . . . natürlich. Richtig. Es geht also um diese Dinge. Das ist bei großer Literatur ähnlich. Nur epischer. Oder?

Lesen Sie auf Seite 3 weiter, warum Neil Diamonds Songs nicht in der Badewanne entstehen

SZaW: So gesehen ist jeder gute Song politisch?

Diamond: Ja, das ist gut, ich denke, das könnte man sagen. Und Sie sagten eben, dass man als sehr junger Mensch schon so weise Songs zustande bringt. Vielleicht liegt es eben auch daran, dass wir in diesem Alter die Fähigkeit haben, unverstellt auf einige Dinge zu schauen, dass wir die richtigen Fragen stellen, luzide Worte finden, dass wir noch nicht vernebelt sind von all' den Kompromissen, die wir dann eingehen. Und die richtigen Worte sind immer: die einfachen, die nicht überladenen Worte.

SZaW: Und doch waren Sie immer auch ein Freund von Pathos, nein?

Diamond: In der Geste, im Arrangement mitunter, ja, zum Beispiel auf einem Konzert: Da muss es den Swing haben, da muss es knallen. Aber absolut.

SZaW: Ihre Las-Vegas-Seite.

Diamond: Sicher! Ich setz' mich nicht zwei Stunden auf einen Hocker, wenn die Leute sich für viel Geld ein Ticket kaufen, und spiele eine Zerlegung nach der anderen auf der Akustischen. Aber die Worte, sie sollten einfach sein. Nicht banal, okay? Sondern einfach. Wenn alles stimmt, passiert 'was Wunderbares: Dann berührt ein Song. Und das ist es, was zählt: Dass der Song berührt. Wissen Sie, ich war ja nie der Mann der Intellektuellen. Meine Leute sind working class. Normale Menschen sitzen auf meinen Konzerten, Paare, die sehr viele Erinnerungen mit diesen Songs verbinden. Das Leben geht solche und solche Wege. Es ist uns allen ins Gemüt geschrieben. Und ich fühle mich diesen Leuten nahe. Ich liebe diese Menschen.

SZaW: In den letzten Jahren hat sich etwas verändert, und Sie wissen das auch: coole Filmleute, coole Musiker und so weiter, sie entdecken den großen Songwriter Neil Diamond . . .

Diamond: Ja, es ist ein wenig ulkig, oder? Ich denke manchmal: Seht ihr - den Kerl hättet ihr auch früher schon haben können!

SZaW: Genugtuung?

Diamond: Ach, nicht in dem Sinne. Es liegt daran, dass die Rezeption von Musik heute nicht mehr so ideologisch ist wie früher. Die Leute hören einen Song, und sie scheren sich nicht um das Image des Sängers.

SZaW: Wenn man Sie über Ihre Arbeit reden hört, das klingt so pragmatisch . . .

Diamond: Wie meinen Sie das?

SZaW: Na ja, einem großen Song liegt ja nicht nur harte Arbeit zugrunde, sondern auch eine geniale Begabung, oder?

Diamond: Begabung, ja, aber genial?

SZaW: Sie sind das, was man ausnahmsweise wirklich mal als eine lebende Legende bezeichnen darf. Statt bei "Star Search" in der Jury zu sitzen - wie Paula Abdul.

Diamond: Oh, ja gut . . . aber genial?

SZaW: Also, dann mal so: Songs wie "Lady-Oh", "Beautiful Noise", "Solitary Man", das sind großartige Songs. Ein eisenharter Freund von mir, der lange in Brooklyn lebte, der weint wie ein Baby, wenn er "Brooklyn Roads" hört!

Diamond: Und da ist es doch egal, was er ist, oder? Hart oder weich. Er liebt den Song. Ich bin dankbar dafür. Dafür sind Songs da, für diese Momente, in denen die Zeit stehenbleibt und wir uns in ein oder zwei Liedzeilen verlieben. Sagen Sie nur, es sei Begabung, so was zu schreiben, zu arrangieren, mir soll es recht sein. Aber eigentlich ist es vor allem: sehr harte Arbeit.

SZaW: Es gibt große Songs, die sind in der Badewanne entstanden!

Diamond: Sind Sie sicher?

SZaW: Ich hab mal so was gelesen.

Diamond: Glauben Sie das? Na, mein Lieber.

SZaW: Nein?

Diamond: Nein! Ich kann die Zeit nicht beziffern, die mich einige Songs gekostet haben, aber mit einem Bad in der Wanne war es jedenfalls nicht ein einziges Mal getan.

SZaW: Wie dankbar sind Sie Rick Rubin? Er hat Johnny Cash zur Ikone gemacht - und seit "12 Songs" sind auch Sie unsterblich.

Diamond: Glauben Sie nicht, dass ich dachte: "Hm, gut wäre, wenn mich nun auch die Kritiker okay finden, besser, ich suche mir mal einen hippen Produzenten." Rick hat mir monatelang auf den Anrufbeantworter gequatscht, nachdem er mit Cash gearbeitet hatte. So war das. Ich kannte ihn nicht, und ich fragte mich, was will der da auf dem Anrufbeantworter? Als wir dann endlich arbeiteten, fand ich Gefallen daran - an der Reduzierung aufs Wesentliche, aufs Gerüst . . .

Lesen Sie auf Seite 4 weiter, wie die Zeit auf Musikbusiness einwirkt.

SZaW: Die Platte ist kein Las Vegas.

Diamond: Definitiv nicht.

SZaW: Die Antithese zu Noah Kaminsky.

Diamond: Definitiv die Antithese zu Mr. Kaminsky!

SZaW: "12 Songs" ist sehr traurig. Songs wie "Hell Yeah" bleiben im Gemüt hängen.

Diamond: Es ging mir um viel, und da ich jetzt gerade wieder hier mit Rick arbeite: Das tut es wieder. Bis Mai werden wir die neue Platte fertig haben, und ich werde mich wieder dem Publikum stellen. Rick Rubin ist gerade in diesem Moment mit den Bändern unterwegs, um sie abzumischen. Ich bin nervös. Ich nehme an, Sie merken es.

SZaW: Was würden Sie als den Kern Ihrer Arbeit an einem Album bezeichnen?

Diamond: Ich muss überlegen. . . . Das Weglassen?

SZaW: Ist es das, was alles so schwierig macht?

Diamond: Ja! Ich muss der Idee vertrauen, dem Song, der Geschichte. Ein wesentlicher Teil dieser, wie ich finde, immer wieder harten Arbeit ist es, Falsches 'rauszuschmeißen. Wegzulassen!

SZaW: Was ist falsch?

Diamond: Falsch sind Dinge, in die ich mich um des Effektes Willen verliebt habe - die aber dem Song schaden. Eine Art . . . schöner Nebel? Der muss raus. Dafür gehen Tage und Nächte drauf! Aber Sie haben von großen Songs gesprochen, nicht ich. Und ich weiß nur: gute Songs entstehen so. Über große Songs entscheidet eh die Zeit, insofern wird man sehen . . .

SZaW: . . . was meinen Sie mit: die Zeit?

Diamond: Sie können einen Hit landen, den die Leute ein Jahr später peinlich finden. Großen Songs ergeht es anders. Sie bleiben für die Ewigkeit. Die Leute werden sie immer lieben. Experten rufen täglich eine neue beste Band der Welt aus, oder? Natürlich müssen sie sich ständig täuschen. Die Menschen entscheiden darüber, was ein großer Song ist - nicht die Experten. Dazu muss man auf das Leben und auf die Zeit vertrauen. Experten tun das nicht. Sie sind jetzt gefragt und müssen jetzt entscheiden. Drum klingen diese Ratschläge so manufakturisiert , so . . . so mechanisch. Verstehen Sie?

SZaW: Sie meinen nicht nur Musikkritiker.

Diamond: Eine bizarre Zeit! Rund um die Uhr erteilt man uns Ratschläge. Wie ich Energie spare, besser aussehe, gesund bleibe, dünn werde, entspannt bleibe. Und dabei die richtige Musik höre.

SZaW: Es sind harte Zeiten, deswegen melden sich alle mit Überlebenstipps, oder?

Diamond: Der Punkt ist, dass ich bei jeder dieser Expertisen denke: Wieso nur schmeckt das jetzt wieder so, dass ich gerne noch eine Prise Salz dazugeben würde?

SZaW: Ja, wieso?

Diamond: Es muss ja nach nichts schmecken, es geht gar nicht anders. Das Leben, nicht der Experte stellt die wahren Expertisen aus. Du bist todkrank. Oder du siehst die Frau deines Lebens. Das bringt die Zeit mit sich, nicht der Experte. Überall rauscht dieses Geschwätz durch die Kabel. Nicht mal ich als Songwriter weiß doch, ob ein Lied bleibt. Ich weiß nur: Ich bin mit heißem, blutendem Herzen dabei.

SZaW: Mister Diamond, Ihre Agentin zeigt auf die Uhr. Sie müssen ins Studio, nicht?

Diamond: Ja. Wissen Sie, ich rede und rede. Und ich bin ja eigentlich gar nicht da.

SZaW: Sie sind nicht da?

Diamond: Na, mein Kopf ist eine Tür weiter - im Studio. Ich wusste ja, dass Sie heute kommen, also legten wir alles auf die Mittagspause. Sie sind einen weiten Weg gekommen. So ist das. Nur, ich bekomme seit Monaten nichts mit. Nichts. Ich denke grad auch immer: "Du bist nicht zu gebrauchen - und gleich wird es der Journalist aus Deutschland merken."

SZaW: Machen Sie sich keine Sorgen!

Diamond: Ich möchte nämlich überhaupt nicht unhöflich erscheinen oder so etwas.

SZaW: Als Eremit wissen Sie vermutlich auch nicht, ob Sie die Demokraten wählen werden. Wie Ihre Freundin Barbra.

Diamond: Ich habe keine Ahnung. Mir ist gerade mal bekannt, dass sich im Moment die Kandidaten aufstellen, ich erinnere mich vage an Fotos in der L.A.Times. Ich bin nicht da. Ich bekomme nichts mit. In ein paar Wochen wird dieser Zustand vorbei sein. Ich gehe bis dahin meiner Arbeit nach. Ist Ihnen aufgefallen, dass das die große Sache ist hier in Los Angeles?

SZaW: Arbeiten? Ja. Es ist vermutlich exakt die richtige Stadt dafür, oder?

Diamond: Ich liebe es. Diese Ruhe. Die Leute gehen in die Studios, drehen Serien, Filme, machen Musik. Sie gehen früh ins Bett, stehen früh auf, arbeiten hart, verhandeln hart, gehen früh ins Bett. Großartig.

SZaW: Und draußen scheint die Sonne.

Diamond: Sowieso . . . Wie lange sind Sie hier?

SZaW: Nur noch kurze Zeit, streng genommen: diesen Nachmittag.

Diamond: Gehen Sie raus, fahren Sie ans Meer! Der Tag kommt nicht wieder.

Neil Leslie Diamond wurde 1941 in Brooklyn als Sohn eines jüdischen Lebensmittelhändlers geboren und entschied sich kurz vor Abschluss der Uni, mit Musik sein Geld zu verdienen. Als Autor, Sänger und Duett-Partner von z.B. Barbra Streisand und Shirley Bassey hat er das All American Songbook um große Songs bereichert. Seine stürmische Karriere war von erheblichen Schicksalsschlägen begleitet - wie einer schweren Krebserkrankung Ende der 70er Jahre. 2005 rehabilitierte der Produzent Rick Rubin den Entertainer endgültig mit der Produktion der leisen CD "12 Songs" als eine "Ikone, die viel mehr zu bieten hat als große Gesten" (SZ). Er lebt in dritter Ehe in Los Angeles und hat vier Kinder.

Neil Diamond spielt am 27. Mai in der Münchner Olympiahalle, am 31. Mai in der KölnArena und am 2. Juni in der Hamburger Color Line Arena.

© SZaW vom 08./09.03.2008/ehr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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