Naturgeschichte:Unter Partnern

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Symbiosen müssen nicht auf Paare beschränkt sein, eine ganze Reihe Partner kann dabei mitmachen. Josef R. Reichholf schreibt eine detaillierte Naturkunde der Symbiosen, und Johann Brandstetter hat sie anschaulich gemacht.

Von Burkhard Müller

Josef H. Reichholf, Biologe, Geograf, Tropenmediziner und langjähriger Leiter der Hauptabteilung Wirbeltiere an der Zoologischen Staatssammlung München, hat schon früher beklagt, dass der schöne alte Begriff der "Naturgeschichte" ganz außer Gebrauch gekommen sei. Denn zum einen begreife man von der Natur nichts, wenn man sie nicht in ihrer geschichtlichen Gewordenheit betrachte. Zum anderen aber, so darf man ihn verstehen, gibt es gerade hier, bei der Wissenschaft vom Leben, anders als etwa bei Physik, Chemie oder Astronomie, die Möglichkeit, den Gegenstand auch erzählend zu behandeln und auf diese Weise einer breiteren Öffentlichkeit zu erschließen. Darum ist Reichholf ein idealer Autor für die "Naturkunden", jene ebenso vielgestaltige wie lesbare Reihe im Verlag Matthes & Seitz, in der schon Monografien über Esel, Krähen, alte Apfelsorten und selbst Gespenster erschienen sind.

Diesmal sind Symbiosen das Thema, die engen, beiderseits vorteilhaften Gemeinschaften zwischen Lebewesen ganz unterschiedlicher Art. Dreißig von ihnen hat Reichholf ausgewählt; jedes Kapitel wird eingeleitet durch ein doppelseitiges Aquarell von Johann Brandstetter. Die beiden, alte Freunde offenbar, haben ihrerseits zu einer Art Symbiose gefunden: Die oft hochkomplexen Zusammenhänge lassen sich deutlich besser in einem Doppelverfahren aus Bild und Schrift vermitteln, als es die Schrift allein vermöchte.

Schon die Titel wecken die Neugier des Lesers: "Raben und Wölfe - ein spannungsgeladenes Verhältnis", "Kurioses Faultierleben", "Früchte - oder warum sollten Pflanzen Tiere füttern?" Ja, warum eigentlich? Ausführlich schildert das Buch, was die Partner einander zu bieten haben. Der Paranussbaum in Südamerika lässt kanonenkugelgroße Bomben zu Boden fallen, in denen dutzendweise die ihrerseits massiv gepanzerten Paranüsse stecken. Ohne fremde Hilfe könnte sich diese Baumart nicht fünf Meter weit ausbreiten. Ein Helfer, der dafür belohnt wird, muss sie verfrachten. Aber wer soll die eisenharten Schalen knacken?

Symbiosen finden oft nicht nur zwischen zwei, sondern einer ganzen Reihe von Partnern statt

Die Lösung: die Agutis oder Goldhasen mit ihrem äußerst leistungsfähigen Nagergebiss, und nur sie. Sobald sie die Kanonenkugel geöffnet haben, schauen sie, dass sie die nahrhaften Nüsse möglichst schnell verschleppen und verstecken, denn unter den Nussbäumen zu verweilen ist für sie sehr gefährlich: Auch der Jaguar kennt diese Plätze, an denen es immer Agutis gibt. Später kommen die Agutis nur auf einen Teil ihrer gehorteten Schätze zurück, der Rest darf keimen und neue Bäume hervorbringen. Man könnte sagen, dass der Paranussbaum außer mit dem Aguti auch mit dem Jaguar eine Symbiose eingeht, während Jaguar und Aguti in einem einseitigen, daher nicht-symbiotischen Jäger-Beute-Verhältnis stehen. Doch letztlich ist es ein Deal, von dem alle drei was haben.

(Foto: N/A)

Symbiosen finden oft nicht nur zwischen zwei, sondern einer ganzen Reihe von Partnern statt, die miteinander in einem empfindlichen, aber elastischen Gleichgewicht verbunden sind, wie ein im Raum schwingendes Mobile. Vieles, ja das meiste daran ist noch nicht erforscht. Noch nicht lange weiß man, dass Pflanzen die für das Leben auf der Erde entscheidende Fähigkeit zur Fotosynthese erworben haben, indem sie Cyan-Bakterien in ihre Zellen aufnahmen: die älteste und am besten eingespielte Symbiose überhaupt.

Andere Symbiosen scheinen mehr auf fallweise durchgeführter Kooperation zu beruhen, etwa wenn sich Gänse und Rehe auf einer Ackerfläche zusammentun: die Gänse sehen, die Rehe hören und riechen besser, und wer zuerst alarmiert ist, verständigt den anderen durch sein Fluchtverhalten mit. Reichholf verhilft dem Leser auch zu neuen Einsichten über das Verhältnis von Hund und Mensch. Unmöglich, sagt der Autor, können die Hunde aus Wölfen direkt gezüchtet worden sein; am Anfang müssen beide Gruppen, das Rudel und die Urhorde, einander eher scheu umkreist und sich sehr langsam nähergekommen sein; zuletzt waren es die Wölfe selbst, die sich zu Hunden domestiziert haben. Das alles wird lebhaft und fast etwas zu knapp dargestellt, das heißt so, dass man gern noch mehr darüber gelesen hätte.

"Symbiosen", sagt Reichholf, "sind nicht leicht zustande zu bringen; sie entstehen nicht einfach, weil ihr Ergebnis den Partnern nützt. Dass es so sein kann, stellt sich erst hinterher heraus, nach Jahrtausenden oder Jahrmillionen Evolution von Strukturen (Form), Stoffen (Chemie) und Verhalten. Evolution ist kein ,Um zu'-Prozess. Von den evolutionären Entwicklungen werden keine Ziele angepeilt. Alle Veränderungen müssen sich unablässig und ausnahmslos im Hier und Jetzt bewähren, nicht erst irgendwann in der Zukunft."

Symbiosen sind, mit anderen Worten, ausgesprochene Sorgenkinder der Evolutionstheorie, wie sonst nur noch die komplexeren Formen des Parasitismus. Denn damit sich die am Ende nützliche Anpassung vollziehen kann, bedarf es der Passung vieler verschiedener Faktoren, es müssen zugleich einander ergänzende Veränderungen in Körperbau und Verhalten vor sich gehen, und das bei allen Aktanten in gleichgerichteter Weise. Da sich aber Mutationen laut dieser Theorie immer blind und zufällig vollziehen, steigt mit jedem weiteren Faktor, der mitspielt, die Unwahrscheinlichkeit, dass das einzig funktionierende Gesamtpaket gelingt, um einen weiteren exponentiellen Schritt.

Hinzu kommt das von Darwin so benannte Problem der nützlichen Übergänge - jede einzelne Stufe auf diesem langen Weg muss bereits einen überlebensrelevanten Vorteil bedeuten. Wie aber soll man es sich vorstellen, dass die zwei hoch ungewöhnlichen Eigenschaften des afrikanischen Honiganzeigers, Bienenwachs verdauen zu können und Honigdachse (oder Menschen) durch aufgeregtes Herumflattern auf den Standort wilder Bienenvölker hinzuweisen, sich erstens allmählich entwickelt hätten, und zweitens zusammen?

Dass solche Symbiosen auf dem von der Evolutionstheorie angegebenen Weg entstanden sein könnten: Die astronomische Unwahrscheinlichkeit dafür lastet so schwer auf dem Autor, dass er sein Wissen, es gebe in der Evolution keine angepeilten Ziele, umgehend vergisst. Dann schreibt er, im Zusammenhang der Clownfische, die unempfindlich gegen das starke Gift der Seeanemonen sind: "Beide Partner müssen, um es aus typisch menschlicher Sicht auszudrücken, ein erhebliches Interesse am Zustandekommen der Symbiose haben. Die Seerosen brauchen die explosiven Nesselkapseln zum Leben. Sie sollen aber weder den eigenen Körper noch den der ,Freunde' nesseln. Eine wechselseitige Abstimmung der chemischen Nichtauslösung ergibt sich daraus als eine Zielsetzung für eine Weiterentwicklung." Die ganze Passage strotzt nur so vor dem strikt verbotenen "Um zu": Die Partner haben "Interessen", sie "sollen" etwas, die Gänsefüßchen bei den ",Freunden'" verraten das schlechte Gewissen, und am Ende steht die "Zielsetzung", die der Evolution doch völlig unmöglich ist.

Reichholf ist nicht der Einzige, dem es so ergeht: Noch jeder Biologe, der Bücher schreibt, ist, auch wenn er sich mit Händen und Füßen dagegen wehrt, der überstarken Gravitation solch teleologischer Ausdrucksweise zum Opfer gefallen.

© SZ vom 21.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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