Nachrichten aus dem Netz (42):Nachschub aus der Realität

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Alte Comics, Zigarettenbildchen, historische Landkarten. Momentan scheint die hungrige Datenschleuder vor allem Inhalte aus den Archiven anzusaugen.

Christian Kortmann

Es gibt zwar viel Neues im Internet, aber noch viel mehr Altes: Denn ein Medium, das sich in jedem Moment aktualisiert, produziert laufend neue Schichten des Vergangenen, wie ein Vulkan, der ein ewiges Pompeji unter Ablagerungen begräbt.

Reales und Fiktives, Altes und Neues, das Netz saugt alles auf. (Foto: Foto: AP)

Momentan scheint diese gewaltig hungrige Datenschleuder Nachschub aus der Realität anzusaugen: So verlegt etwa die Brockhaus-Enzyklopädie ihren angestammten Platz aus den Bücherregalen ins Netz. Das mag denjenigen, die in einer gedruckten Schriftkultur sozialisiert wurden, vorkommen wie ein Science-Fiction-Film, in dem Tag für Tag Menschen verschwinden, von Außerirdischen ins All entführt.

Zur Beruhigung: Die Welt wird nicht entmaterialisiert, denn Dokumente sind im Internet ja keinesfalls verloren, sondern das Gegenteil ist der Fall - manches wird online überhaupt erst für ein breites Publikum handhabbar.

Was durchaus wörtlich zu verstehen ist: So sind beispielsweise Comichefte nicht einfach zu konservieren, denn die Seiten verblassen und zerfallen irgendwann zwischen den Fingern zu Staub. Im Netzarchiv der französischen Coconino World glänzen historische Comics in satten Farben.

Die Coconino-"Classics"-Abteilung begreift sich als "Enzyklopädie der Geschichte des grafischen Erzählens". Hier findet man neben Ausgaben des "Simplicissimus" und Einführendem zum Werk des visionären Winsor McCay ("Little Nemo") auch weniger Bekanntes wie die "100 Zeichnungen für den englischen Totentanz" von Thomas Rowlandson. 1814 kommentierte er zynisch den Verfall der englischen Gesellschaft, indem er Skelette in Alltagsszenen platzierte, was aus heutiger Sicht an eine Mischung aus Goya und Manfred Deix erinnert.

Anders als Bibliotheken und Museen kennt das Netz keine Platzprobleme, was wieder mal deutlich wird, wenn man durch die schier unerschöpflichen Digital-Gallery-Schatzkammern der New York Public Library streift: An historischen Dokumenten und Walt-Whitman-Manuskripten vorbei dringt man in Randbereichen der Alltagskultur vor und entdeckt eine Sammlung von Cigarette Cards, ambitionierte Miniaturmalerei als Tabakbeigabe aus einer Zeit, als das Rauchen noch zu den schönen Künsten zählte.

Fast 18.000 historische Landkarten stellt David Rumsey in seiner Map Collection bereit. Ganz davon abgesehen, dass man nur dank Internet von ihrer Existenz erfuhr, wirken die Karten online plastischer als ihre Schöpfer einst zu träumen wagten: Unter anderem wird ein Stadtplan von Los Angeles aus dem Jahre 1880 dreidimensional dargestellt, so dass der Betrachter durch die Straßen fliegen und Details erforschen kann.

Auch Enzyklopädien, die das Wissen ihrer Zeit bei Drucklegung festschrieben, sozusagen frühere Pompejis, werden im Netz als Hypertexte lebendig. Die Online-Ausgaben der "Encyclopaedia Britannica" der Jahre 1902 und 1911 bilden ein Netz im Netz: Als hätte es Wikipedia schon vor hundert Jahren gegeben und alle Autoren seien klug gewesen (Thomas Henry Huxley schreibt über Darwin, Robert Louis Stevenson steuert Literatenporträts bei) springt man von Link zu Link, ohne mühsam die schweren Bände zu wälzen. Der digitale Zugriff auf den analogen Inhalt erlaubt es, Assoziationen sofort zu folgen und verbindet das Beste aus beiden Welten.

© SZ vom 18.2.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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