Mythengestalt Mickey Mouse:Von wegen süße Maus

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Für die einen ist es nur eine Disney-Figur, für die anderen die wohl tiefsinnigste Comicfigur der Welt - der Ursprungsfilm verrät Ungeahntes über Mickey Mouse.

Bernd Graff

Das sagt sich so leicht: "Mickey Mouse/Micky Maus ist eine von Walt Disney und Ub Iwerks erschaffene Zeichentrick- und Comicfigur, die neben Donald Duck zu den bekanntesten Figuren aus dem Disney-Universum gehört." So steht es in der deutschsprachigen Wikipedia, und so stimmt es wohl auch.

Ist "Steamboat Willie" die Neufassung eines Teils von Michelangelos Jüngstem Gericht? Charon treibt die Verdammten aus seinem Boot in die Hölle. (Foto: N/A)

Doch was heißt schon "eine von Walt Disney und Ub Iwerks erschaffene Zeichentrick- und Comicfigur"? Denn Mickey Mouse, die eigentlich Mortimer hätte heißen sollen, ist alles andere als eine Zeichentrick- und Comicfigur. Sie ist eine Mythengestalt, ein Untoter, ein Zombie, eine Odysseusfigur, die nicht altert - in Gestalt einer Zeichentrick- und Comicfigur.

Schaut man sich "Steamboat Willie", den ausdrücklich "Sound Cartoon" genannten Erstling aus dem Jahr 1928, an, dann fällt sofort auf, dass hier nicht die Geschichte einer pfiffigen Maus erzählt, sondern ein Paralleluniversum, ein Reich animistischer Verlebendigung alles Sachlichen aufgerissen werden soll.

"Steamboat Willie" - das Video:

Mortimer ist darin eher das Vehikel, das Story und Bilder voran bringen und begründen soll. Tatsächlich aber durchschreitet man eine Zauberwelt, in der die Schornsteine swingen, die Dampfpfeifen leben, Zähne tönen und Kräne erröten.

Verdonnert zu Matrosendiensten

Mortimer ist, so sich das sagen lässt, erst einmal ein Underdog, kujoniert von Kater Karlo, dem Über-Feliden, der schon rein körperlich ins Monströse, ja Polyphemhafte reicht. Ein tumber Gigant, der Mortimers Soma gleich in der ersten gemeinsamen Einstellung verformt wie ein Stück Enddarm, das die Maus mit den Kulleraugen nur notdürftig wieder zum eigenen Körper zusammen faltet.

Mortimer, der Gemütskapitän auf leichten Wassern, wird zu einfachen Matrosendiensten verdonnert, Reinigungs- und Ladearbeiten. Allerdings lädt Mortimer auch am Kai eine beseelte Fracht, in der schlechterdings nichts unbelebt sein kann. Kühe, Kräne Ziegen, ja, selbst Notenblätter tönen von sich.

Mortimer, das ist die Botschaft, bereist dieses Universum nur, er beherrscht es nicht. Auch wenn er kurzzeitig eine Ziege, ein Kuhgebiss, ein paar Kessel, eine Gans und eine auf Untermaß geschrumpfte Katze zum Tönen bringt, ist dies doch nur Intermezzo, Talmi der Ablenkung. Denn in diesem durchweg belebten Universum, im Total-Animismus, ist ja endlich nichts mehr belebt, nivelliert sich die Differenz von Leben und Tod zum Totentanz.

Darum fallen auch die Aktionen so aggressiv aus, weil Verletzung keinen Unterschied mehr macht. Die Toten und Entstellten, die Verbogenen und Zerrissenen sind untot tot, das muss man sich klar machen. Vielleicht ist Mortimer auch deshalb so blass um die Nase. Ein Alb an Maus!

Den Tod im Namen

Doch anders als Odysseus, der Märchenreiche durchwandert, um schließlich doch heim zu kommen, endet Mortimers erste Fahrt im Keller vor einem Kartoffelhaufen, seinem Sisyphosberg. Hier versenkt er noch einen Papagei, von dem wir indes wissen, dass auch er nicht vergehen kann.

Insofern darf man getrost behaupten, dass Steamboat Willie die Route des Fliegenden Holländer nachfährt: bis zum Jüngsten Tag auf seinem Geisterschiff, ohne Rast und Ruhe zu finden. Und nur alle sieben Jahre darf er kurz an Land, um nach einer treuen Frau zu suchen. Hier ist es Minnie Maus, der es ja eben nicht gelingt, selbständig an Bord zu gelangen und die dafür einen Zauberkran benötigt.

Und schaut man noch genauer hin, dann erkennt man die ältere, aber noch größere Vorlage: Denn so untot ist Steamboat Willie auf den Gewässern Acheron, Styx und Lethe unterwegs, jenen Flüssen, die das Gebiet des Lebendigen vom Hades, dem Reich der Toten trennen. Damit wäre Mortimer, der mit dem französischen Mort den Tod schon im Namen trägt, eine Charon-Gestalt: Fährmann der Unterwelt, dessen Physiognomie denn auch an der des Prototypen aller Charon-Gestalten, der des Michelangelo, orientiert ist: Die großen Ohren, die großen Augen, die Wut und die Kraft, noch das Gewesene zu scheuchen.

Wer also hätte gedacht, dass diese Unfigur dem Vampir tatsächlich näher als der Spitzmaus steht, als sie vor 80 Jahren erstmals die Gestade des Hades trivialisierte. .... "eine von Walt Disney und Ub Iwerks erschaffene Zeichentrick- und Comicfigur..." Pfffft!

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