Musik:Hartz IV in der Promi-Box

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Hurra, wir leben noch! - Marius Müller-Westernhagens neues Album "Nahaufnahme"

Von Joachim Lottmann

Wenn Opa nochmal zum Schifferklavier greift und Herz auf Schmerz reimt, ist das aller Ehren wert. Die neue CD von Westernhagen: Prima. Gut. Völlig in Ordnung. Streckenweise, nein meistens, etwas zäh, etwas nullig.

Kanzler-Berater oder Prolet-Poser - Marius Müller Westernhagen. (Foto: Foto: AP)

"Versuch Dich zu erinnern steht es geschrieben in dem Buch ist jede Suche nur Versuch Versuch dich zu erinnern..."

Aber - es ist niemals WIRKLICH schlecht, niemals peinlich. Kein blöder Frühsiebziger-Rock, kein Peter Maffay, nicht mehr die immer gleichen Riffs aus den Stones-Alben "Exile on Main Street" und "Sticky Fingers". Nichts Epigonales mehr in der Musik, und in den Texten sowieso nicht. Kein Grund mehr für jenes Wadenbeißertum, für das sich Stuckrad-Barre im aktuellen Spiegel gerade entschuldigt hat.

Vom Leben geschlagen

Okay. Es ist schwer, dabei nicht ironisch zu wirken. Bitte, Leser, glaube mir. Die neue Westernhagen ist manchmal rührend, im letzten Stück "Solange wir noch leben" sogar richtig traurig. Ich könnte mir Leute vorstellen, die es aufgrund ihrer Lebenssituation sogar ergreifend finden. Andere Stücke handeln von enttäuschter Liebe, und vielleicht gibt es auch da den einen oder anderen, den es umhaut, und zwar zu recht. Leute, die vom Leben geschlagen sind.

Beim Recherchieren fand ich eine Stelle in einer alten SZ, wo es hieß, Westernhagens Fans seien Leute, die vollkommen angekotzt seien von ihrer Arbeit, dann nach Hause kämen und auf Frau und Kinder träfen, von denen sie ebenso angekotzt seien, und dann auf ihre Wohnung sähen, auf ihre Möbel, ihren Balkon, ihre Terrasse, und davon genauso angekotzt seien. Ja, das ist Westernhagen: ein enorm guter, weil treffender, von mir aus sogar genialer Ausdruck für Blindheit und Doofheit.

Das, was die Linken, als es sie noch gab, einmal ,Bewusstsein' genannt hatten, hat unseren Sänger nie gestreift. Diese seltsame Leerheit hat ihn von Anfang an prädestiniert, zum Helden von Millionen Unglücklichen (und der reaktionären Mainstream-Musikindustrie) zu werden.

Loch im Negligé

Seltsam deswegen, weil der Typ, in den vierziger Jahren geboren und eigentlich klassischer Polit-Jahrgang, nur als Künstler so stumm war, nicht als Mensch. Man kann sich alle 172 Songtexte seit 1974 herunterladen - es spricht aus allen dasselbe Künstler-Ich, das nichts versteht, das an nichts glaubt, das um Liebe und Sex bettelt und ratlos bleibt.

Alkoholiker-Gegröle à la "Johnnie Walker du bist mein einziger Freund": Damit identifizieren sich natürlich unter Sinnlosigkeit leidende deutsche Massen, denen man erst das rechte und dann das linke Weltbild lobotomiert hat. Jede Meinung ist suspekt, jede Erklärung ,intellektuell', ergo verlogen. Prost!

Trüber Kritikerblick

Privat dagegen ist derselbe Westernhagen einer, der brillante Interviews gibt, Gerhard Schröder berät und Matthias Sammer die Aufstellung für das nächste Spiel diktiert. Deswegen mögen ihn Deutschlands Chef-Feuilletonisten. Der Blick des Kritikers trübt sich.

Schlimm? Auch Russland hat seine Säufer-Barden. Und solange es künstlerisch was hergibt, bitte sehr. Bei Westernhagen stößt es aber zu sehr auf. Zum Beispiel in der Berichterstattung über ihn. Das fängt bei Michael Naumann an (Ex-Kulturstaatsminister und Zeit-Herausgeber) und hört bei Benjamin von Stuckrad-Barre auf.

Gutes tun

Zumindest letzterer hat genug Marx, Luhmann und Harald Schmidt mit der Muttermilch aufgesogen, um etwas anderes über die Marke ,Westernhagen' zu schreiben als die Vier-Seiten-Endloshymne im bedeutendsten deutschen Nachrichtenmagazin.

In dem Text steht aber nur eines: Ich, Stuckrad-Barre, bin dem Mann menschlich verpflichtet und tue ihm jetzt etwas Gutes. Dasselbe steht auch in Naumanns Eloge auf Marius in der aktuellen Zeit. Und bei den anderen Journalisten, die sich durch Pomp, Sonder-Listenings und Kanzlernähe einwickeln ließen.

Immerhin: Der Song "Gejammer" auf der neuen CD ist wirklich toll, ja sensationell. Es gibt ja Pop-Theoretiker, die einem Star aufgrund eines einzigen Hits das Recht auf ewigen Ruhm zusprechen. So gesehen: meinen respect, Marius.

Prolet-Poser und ewiger Loser

Das wäre jetzt ein versöhnliches Schlusswort, und alle hätten wieder ihren Frieden. Ich könnte sogar weitergehen und sagen, dass auf fast jeder der 23 Alben so ein kleiner Supersong versteckt ist.

Ein Song, der den ewigen Loser und Prolet-Poser vergessen lässt, und die reale, humorlose, selbstgerechte Westernhagen-Welt aus Riesenarenen, Boris Becker, Formel-I-Promi-Box mit schwarzer Status-Freundin und Doris Schröder-Köpf dazu. Hier geht der Text so:

"Du liegst auf mir kalt wie Schnee Du mit deinem Loch im Negligé... Ich will nur noch weg. Weg, unser Boot hat ein Leck. Weg aus dieser Klammer. Weg, nichts wie weg von diesem klebrigen Fleck... Tot, mausetot die schöne Chemie..."

Jeweils die Endsilbe wird grotesk lang gedehnt, was einen erfrischenden, brutal eindeutigen Effekt macht. Musikalisch gesehen ist das reiner Humor. Wir sehen, wie immer bestehen Kunst und Künstlerleben aus Paradoxien. Wie ja auch die Statusfreundin die einzig wahre Liebe ist, die wir in dieser Szene kennen. Westernhagen ist gesegnet mit dieser Frau.

Wie wohl auch Boris der beste Freund ist, den man sich denken kann. Vom Konto bis zum Kanzler stimmt ALLES in diesem Leben, und es gibt keinerlei Grund, die übrigen 13 Songs auf "Nahaufnahme" in einem Meer von Tränen zu ersäufen.

Fester Platz im System

Doch, gibt es, der Hartz-IV-Frührentner aus Frankfurt/Oder braucht eine bestimmte Art von CD-Nachschub. Aber keinen Grund gibt es, dieses Ereignis mit Reklame-Sprachhülsen schönzufärben: Die Stimme changiere zwischen fetzig-rebellisch und einschmeichelnd, der Star sei ein grandioser Virtuose, der sich treu bleibe, es handele sich um ein höchst privates Album, das die Herrschaft der Gefühle behandele, mit melancholischen Balladen, mit Blues und so weiter.

Herr Naumann, kommen Sie zu sich! Nehmen Sie den armen Werbern nicht ihr letztes Brot weg. Feste Arbeitsplätze sind dort rar geworden, wie überall. Einen festen Platz im System hat nur noch einer: Opa Westernhagen

Joachim Lottmann ist Schriftsteller; zuletzt erschien der Roman "Die Jugend von heute" bei Kiepenheuer & Witsch.

(SZ vom 22.02.2005)

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