MTV Europe Music Awards:Läppisch in der Lederhose

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MTV verlieh in München die Europe Music Awards an Tokio Hotel, Amy Winehouse und weitere übliche Verdächtige. Auch Moderator Snoop Dogg konnte die Belanglosigkeit des Abends nicht überspielen.

Christian Kortmann

Das Fernsehen ist eine Sanduhr, in der Bilder nach unten fließen: Was für Momente als modernste Gegenwart erscheint, fällt auf den Boden und wird von den Schichten jüngerer Vergangenheiten begraben.

Wenn TV-Szenen aus den sandigen Tiefen der Archive ans Licht kommen, wird dem Zuschauer das eigene Altern schlagartig bewusst, weil die damaligen Bilder wie verblasste Puzzlestücke nicht mehr in die Realität passen.

Noch intensiver ist der Kontrast bei einem Sender, der anders als ARD oder ZDF nicht mit dem Zuschauer altert, sondern wie Peter Pan das Recht reklamiert, ewig Kind zu bleiben: Music Television, kurz MTV genannt, besitzt die Gnade der ewigen Jugend oder zumindest die Bereitschaft, für eine jugendliche Erscheinung massive kosmetische Umbauten in Kauf zu nehmen.

In den 1980ern präsentierte MTV der Jugend der Welt das brandneu-aufregende Genre Musikvideo. Als die Videoclips nach zwei Jahrzehnten erwachsen geworden waren, schwenkte MTV um zu Reality-Soaps über Teenagerliebe, senile Rockstars und ihre freakigen Familien oder aufgemotzte Kleinwagen.

Mental bleibt bei MTV immer alles poppig-pink, weshalb man nach dem 20. Lebensjahr dieser Welt schnell entwächst. Schließlich genügt es, wenn Urzeit-Moderator Markus Kavka, der Kulenkampff des Musikfernsehens, dort wie in einem unaufgeräumten Kinderzimmer steht und stellvertretend für uns vor sich hin altert.

Auf musikfernem Umweg hat es MTV geschafft, ein jugendlicher Sender und auch als Pop-Orientierungsmarke für ein Teenagerpublikum relevant zu bleiben, das seine Musik längst nicht mehr im Fernsehen, sondern im Internet sucht.

Als MTV am Donnerstagabend die European Awards verlieh, wussten deshalb alle Musikmanager, warum sie ihre Künstler - Pete Doherty und seine Babyshambles, Pussycat-Doll Nicole Scherzinger oder Dave Gahan von Depeche Mode - nach München schickten: Selten erreicht man solch ein großes junges Publikum wie bei dieser internationalen TV-Show.

Was war im Vorfeld nicht alles zu lesen: von gecasteten Schreihälsen für die erste Reihe, einem Snoop Dogg als Conferencier in ausgelassenster Stimmung und nicht jugendfreien Bühnenshows.

Dazu gab es eine unwiderstehliche Plakatkampagne mit Hip-Hopper Snoop in Trachten-Lederhose, zwei Damen im Arm und dem Slogan "Our Kind of Volksmusik": MTV weiß, wie man aus einer Werbeveranstaltung der Musikindustrie eine Show macht, die so groß wirkt, dass alle das Gefühl hatten, an diesem 1. November würde München zum Schauplatz eines ganz besonderen Ereignisses werden.

Doch das Aller-Pop-Heiligen beruhigte unsere stressempfindlichen Novemberseelen dann mit allen typischen Award-Show-Zutaten: Unsinn reden auf dem roten Teppich ("Hose auf und los": Tom von Tokio Hotel über seine Verführungskünste); ewig langen Werbeunterbrechungen (Hey Kids, bald ist Die-Ärzte-Tag auf MTV!), inspirierten Dankesreden (Nelly Furtado, Album des Jahres: "Ich weine immer, vielleicht weil ich Mutter bin.") und auf der Hand liegenden Preis-Kategorien wie "Inter Act" für die Band mit der fleißigsten Fanpflege.

Diese Auszeichnung ging übrigens an Tokio Hotel, und Bill Kaulitz hielt eine abgebrühte Ansprache - Pech gehabt, Depeche Mode, nächstes Jahr ein bisschen mehr anstrengen und mal wieder zum Friseur gehen.

Snoop Dogg sah zwar nach jedem seiner zahlreichen Kostümwechsel cooler aus, enttäuschte jedoch als Conferencier. Trotz aller Bemühungen, witzig zu sein, war er nur unfreiwillig komisch, als Mann, der in seinem Vielweiberei-Image gefangen ist, das er in Variationen wiederholen muss: wie ein trauriger König in einem Märchen, der nur in den Spiegel blicken kann, wenn er von halbnackten Frauen umstellt ist.

Gut, dass Dave Grohl von den Foo Fighters die Show als Pausen-Spaßmacher aufheiterte. So forderte er Boris Becker, der bekanntlich überall ist und sich plötzlich in der Olympiahalle materialisierte, zu einer Partie Tischtennis heraus.

"Michael Jackson wäre stolz auf ihn."

Das hätte man gerne gesehen, es wurden aber wieder gelangweilt Preise verliehen: Eva Padberg und Wladimir Klitschko überreichten einen an Bushido, Jens Lehmann und Boris Becker hatten auch eine Statuette dabei, und Avril Lavigne bekam gleich zwei. Jetzt fehlte nur noch Veronica Ferres - denn ein Hauch von Deutscher-Fernsehpreis-Belanglosigkeit lag in der Luft.

Amy Winehouse schaffte es immerhin aufzufallen. Sie hat sich erfolgreich zur einzigartigen Erscheinung stilisiert: Tätowierungen, expressiv geschminkte Augenbrauen, auf dem Kopf der Mount Everest der Hochsteckfrisuren. Beim Erhalt des "Artist Choice", des Preises der Kollegen, gab sie überzeugend die Verschüchterte und verließ sprachlos die Bühne. Ihr musikalischer Auftritt lag leicht neben der Spur, denn Winehouse' stets auf schmalem Grat balancierender Gesang kippte in eine quakende Tonlage.

In Zukunft sollte sie die Mähne lieber noch steiler toupieren, erwächst ihr doch nun auch international Aufmerksamkeits-Konkurrenz durch Bill Kaulitz. Die Rapper Wyclef Jean und Snoop Dogg staunten über dessen Frisur und Kleidungsstil: "Michael Jackson wäre stolz auf ihn."

Selbst innerhalb des Pop schütteln die Erwachsenen angesichts der Jugend den Kopf: Unerbittlich läuft die Sanduhr eben auch für sie.

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