Morbider Charme:Hinter frischer Fassade bröckelt der Stuck

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Auf den ersten Blick wirkt St. Petersburg an seinem 300. Geburtstag wie aus dem Ei gepellt. Doch die Bewohner kämpfen nach wie vor mit dem Verfall ihrer Stadt.

Wenn an diesem Wochenende mehr als 40 Staats- und Regierungschefs die russische Stadt St. Petersburg besuchen, erleben sie eine wie aus dem Ei gepellte Metropole.

US-Präsident George W. Bush, Bundeskanzler Gerhard Schröder und Chinas Staatschef Hu Jintao werden zum 300. Stadtgeburtstag über frisch asphaltierte Prachtstraßen fahren und prunkvoll renovierte Paläste bestaunen.

Für die fast fünf Millionen Petersburger Bürger ist das Jubiläum dagegen ein zweifelhaftes Vergnügen.

Verpasster Lehrstoff

"Die Behörden haben unsere Universität für die Feiertage kurzerhand geschlossen", klagt die Philosophie-Dozentin Irina Andrejewna. Im Juni müsse dann der verpasste Lehrstoff im Eiltempo nachgeholt werden.

Auch Kindergärten und Schulen im Stadtzentrum haben in dieser Woche frei, um die Stadt mit dem Ansturm von Präsidenten, Delegationen und Touristen nicht wegen Überfüllung schließen zu müssen.

Mehrfach wurden die Petersburger aufgerufen, das Jubiläumsfinale vom 30. Mai bis 1. Juni am besten auf der Datscha außerhalb der Stadt vor dem Fernseher zu verfolgen.

Exodus aus der Wahlheimat

Wegen der verschärften Polizeikontrollen haben viele Zugezogene, die ohne die schwer zu erlangende Aufenthaltsberechtigung in St. Petersburg leben, ihre Wahlheimat über die Feiertage verlassen.

Die Dozentin Irina will nicht weichen. "Das alles ist doch nur oberflächliches Zurschaustellen", sagt die 52-Jährige. Bestes Beispiel dafür sei ihre "Universität der Kultur und Künste" im Stadtzentrum. Weil das Gebäude in Blicknähe der Eremitage steht, wurde die Fassade aufgemöbelt. Selbst die Professoren rätseln, wer kürzlich eine pompöse Einganstür einbauen ließ. Dahinter blieb alles beim Alten. Es regnet weiterhin durchs Dach. Gelegentlich müssen die Vorlesungen unterbrochen werden, weil Stuck auf die Studenten niederprasselt.

Wer in den Tagen des Stadtjubiläums auf den Straßen Petersburgs die Ohren aufhält, bekommt - für Westeuropäer - unglaubliche Geschichten zu hören.

So sei die über Monate renovierte Troizki-Brücke, eine der wichtigsten Verbindungen über die Newa, in höchster Eile asphaltiert worden, um termingerecht vom Gouverneur eingeweiht werden zu können. Gleich am nächsten Tag aber hätten Arbeiter die Schicht wieder abgefräst, um die Renovierungsarbeiten fortzusetzen.

Zwei Mal eingeweiht

Der umgebaute Ladoga-Bahnhof sei gleich zwei Mal eingeweiht worden, einmal vom Eisenbahnminister aus Moskau und dann vom Petersburger Gouverneur.

Insgesamt 40 Milliarden Rubel (1,1 Milliarden Euro) soll der Staat für das Jubiläum ausgegeben haben. Ein nicht geringer Teil dieser Summe landete in den Taschen korrupter Beamter, stellte eine Untersuchungskommission aus Moskau fest.

Entlang des Newski-Prospekts herrscht der Ausnahmezustand. Selbst in den Seitenstraßen klingeln Polizisten an jeder Wohnungstür. Ob sie über die Feiertage daheim blieben und Besuch erwarteten, werden die Mieter gefragt.

"Dreißig Jahre hat sich kein Polizist vor meiner Wohnungstür blicken lassen", erzählt die Anwohnerin Nadeschda Iwanowna mit Verärgerung. Zuvor hatte sie sich über Jahre vergeblich über Obdachlose im Treppenhaus beschwert. "Ich habe dem Polizisten gesagt, ich würde Anhänger des Terroristen Osama bin Laden bei mir aufnehmen", erzählt die Frau. Der Uniformierte habe das gewissenhaft in sein Notizbuch eingetragen.

(sueddeutsche.de/dpa)

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