Michelangelo: Original oder Fälschung?:Dieses Buch tut weh

Lesezeit: 5 min

Ein wuchtiger neuer Michelangelo-Band zeigt das "vollständige Werk" - und reduziert das Œuvre des Künstlers ganz erheblich. In den Museen ist die Verunsicherung nun größer denn je.

Holger Liebs

Dieses Buch tut weh. Und das in zweifacher Hinsicht. Über die zweite später mehr. Zunächst schmerzen erst mal nur die Oberschenkel und Knie, auf die man das etwa neun Kilo schwere, frühstückstablettgroße, 768 Seiten starke Trumm zu legen geneigt ist - weil sich eben kaum eine angemessen leere Tischfläche findet, auf die man "Michelangelo. Das vollständige Werk" zu wuchten vermag, ohne dass Tastatur oder Kaffeetasse darunter förmlich zertrümmert würden.

Der junge Bogenschütze - vielleicht von Michelangelo. (Foto: Foto: picture-alliance / dpa)

Und doch ist das Format dieses neuen, gleichsam testosterongestählten Schwergewichtes aus dem Hause Taschen nicht nur publizistischer Aufmerksamkeitsstrategie geschuldet, sondern auch und vor allem seinem Gegenstand, dem kompletten Œuvre eines Renaissance-Künstlers, welcher eine so muskelbewehrte und dabei anmutige Körperkunst geschaffen hat, dass etwa Stendhal - sanft untertreibend - notierte, bei Michelangelo gehe es weniger darum, was seine Figuren empfänden als was sie täten: Denn Michelangelos so vielschichtiges Werk wird überstrahlt von der Sinnlichkeit und perfekten Anatomie seiner Figurenkunst, von dieser drastisch ausformulierten Körperlichkeit, für die die Kunstgeschichte nur Superlative gefunden hat.

So nah wie in diesem Wälzer ist man dem Gesamtwerk Michelangelos selten gekommen - schon wegen der zahlreichen Zooms etwa auf die Decke der Sixtinischen Kapelle, der allein 134 Seiten mit Einzeldarstellungen gewidmet sind. Kein Wunder: da die Sistina das am besten fotografierte Kunstwerk der Welt ist, kann nun auch die neue Publikation mit unerwarteten close-ups aufwarten - aber auch mit zahlreichen vergrößerten Popos aus dem Skulpturenwerk des Meisters

Man muss sich aber schon darüberbeugen, um die oft ganzseitigen Aufnahmen und ausklappbaren Panoramen wahrnehmen zu können, ohne dass jedes Tableau sich so verzerrt darbietet wie die schlaff herabhängende, abgezogene Haut des Bartholomäus im "Jüngsten Gericht" - man hat in der leeren Körperhülle mit dem fratzenhaft verzogenen Antlitz ein Selbstbildnis Michelangelos sehen wollen, denn für derlei Bekenntnisse des Künstlerleidens war er bekannt.

Auch hängt die geschundene Haut nahe über der Zone der Verdammten im "Jüngsten Gericht": Das erschien einigen Deutern als Beispiel des typischen Sarkasmus Michelangelos, der sich hier eher der Hölle zurechnete als dem Paradies.

Fluch der Attribuzlerei

Mit diesen im Laufe der Kunstgeschichte entstandenen Mutmaßungen über Michelangelo, welche - neben den unbezweifelbaren Fakten - von Frank Zöllner, Christof Thoenes und Thomas Pöpper kenntnisreich präsentiert und facettiert werden, sind wir auch schon im Herzen der Forschungsarbeit der drei Kunsthistoriker - und bei dem zweiten Schmerz, der sich nun vor allem bei namhaften Michelangelo-Forschern, von denen nicht wenige Museumskuratoren sind, einstellen dürfte.

Es ist nämlich ein doppeltes, fast paradoxes Bemühen von Zöllner und seinen Mitstreitern zu erkennen: Sie wollten nicht nur den am üppigsten illustrierten Band über Michelangelo vorlegen - das haben sie zweifelsohne geschafft -, sondern auch den neuesten Stand der Kunstgeschichte dokumentieren. Dieser aber - seit je ein Konstrukt, das fortlaufender Überprüfung bedarf - regt zu Zweifeln, ja zu Zwietracht an.

Unstrittig ist, dass Michelangelo, von Zöllner als Überwinder der Auftragskunst gepriesen, als Genie, das sich über jeglichen überlieferten Kanon hinwegzusetzen vermochte und daher zu Recht als der Urtyp des modernen Künstlers gefeiert wird, dass dieser Michelangelo im 16. Jahrhundert zum meistkopierten Künstler überhaupt avancierte. Womit sich für die Forschung bald das Problem der Zu- und Abschreibung von Originalen, der "Attribuzlerei" stellte, wie Carl Justi dieses Metier einmal schmähte.

Vor allem im vergangenen Jahrhundert schwoll das Œuvre Michelangelos auf diese Weise bald ab, bald an mit eindeutiger Tendenz zur wundersamen Werkvermehrung - in Skulptur und Malerei, aber vor allem bei den Zeichnungen. Karl Frey katalogisierte 1911 nur 250 Blätter von der Hand des Meisters, Henry Tode zur selben Zeit aber doppelt so viele. 1938 sah Bernhard Berenson 288 Zeichnungen als authentisch an.

Frederick Hartt summierte 1970 circa 460 Blätter. Charles de Tolnay schließlich sah um 1960 noch etwa 250 Zeichnungen als original an, vollzog aber später einen Sinneswandel und kam 1975 auf mehr als 630. Der Gipfel wurde kürzlich mit sage und schreibe 870 Blättern erreicht. Der Schweizer Alexander Perrig jedoch, ein Lieblingsfeind der Branche, stutzte die Zahl unerbittlich auf etwa 50 herunter.

Schon seit langem streiten sich Forscher darüber, wie solche phantastischen Schwankungen zustande kommen. Dass vor allem italienische und englische Museumskustoden bei den eigenen üppigen Michelangelo-Beständen lieber zu- als abschreiben, ist verständlich - doch tatsächlich ist unser Michelangelo-Bild, folgt man den nun vorliegenden Forschungen, zu 40 bis 50 Prozent nicht von Originalen, sondern von Derivaten geprägt - durch Zeichnungen von Schülern oder von kopierenden Zeitgenossen.

Auferstehung als Ruine

Dass die Zeichnungen eine so große Rolle im Œuvre Michelangelos spielen, nimmt nicht Wunder: Das "disegno", ein wegen seiner Bedeutungsfülle eigentlich unübersetzbarer Begriff, galt der Renaissance als "Vater aller Künste", wie Künstlerbiograf Giorgio Vasari es formulierte, als Form oder Idee aller Kunstwerke im Kopf des Künstlers - aus diesem Begriff speist sich die moderne Genieästhetik, die in Michelangelo ihren Ursprung findet.

Die "arti del disegno", eigentlich "Zeichenkünste", sind dementsprechend als Synonym aller Kunstgattungen zu verstehen. Wer den ganzen Michelangelo erfassen will, muss seine Zeichnungen unter die Lupe nehmen.

Von daher ist es verdienstvoll, dass Zöllner & Co. der bilderreichen Kür in der ersten Buchhälfte einen metikulösen Werkkatalog folgen lassen, in dem sie viele unstrittige, aber auch viele fragwürdige Zuschreibungen versammeln - die meisten bei den Zeichnungen. So kann sich jeder selbst ein Bild machen. Dass enorm viele Blätter Michelangelos nun ein Fragezeichen in der Titelei tragen - es bleiben grob 200 authentische Blätter übrig -, hat in der britischen Museumsszene laut Times nicht eben Begeisterung geweckt - man musste zur Kenntnis nehmen, dass eine "Auferstehung" oder die "drei Arbeiten des Herkules" aus der Royal Collection in Windsor Castle nicht mehr als authentisch eingestuft werden.

Letzte Gewissheit ist im Zuschreibungsmetier nie zu erlangen - sieht man von offensichtlichen pentimenti, also nachträglichen Änderungen der Zeichnung, sowie von Blättern ab, auf denen auch Schüler sich verewigt haben. Michelangelo hat überhaupt nur ein einziges Blatt selbst signiert. Doch zumindest drei gewichtige Argumente sprechen für die neuen Erkenntnisse, die ja auch ältere Forschungen summieren.

Wirklich tief schürfen

Zunächst hat Michelangelo die meisten seiner Zeichnungen verbrannt - worüber sich schon kurz nach seinem Tod die Zeitgenossen aufregten. Zum zweiten ist der größte Teil seiner Blätter der Darstellung von Marmorblöcken gewidmet - kein Wunder, dass sich Forscher lieber auf Akte und Auferstehungen stürzten, gaben diese doch viel ergiebigeren biografischen Stoff ab. Und da nahm man es eben manchmal nicht so genau mit der Frage, ob Original oder nicht.

Zum dritten aber publizieren die Autoren erstmals auch die Zeichnungssammlung des Tommaso de' Cavalieri, des engsten Vertrauten Michelangelos. Schon Vasari nahm an, dass Cavalieri zahlreiche Zeichnungen des Freundes besäße; viele Forscher folgten ihm darin. Nach dem Tod seines Sohnes aber verkaufte Cavalieri, wie man annehmen muss, den allergrößten Teil seiner Sammlung en bloc. Im jetzt veröffentlichten Verkaufs-Kontrakt aus dem römischen Staatsarchiv finden sich gerade mal vier Zeichnungen. Das macht das Inventar zum Schlüsseldokument für die Michelangelo-Forschung.

So birgt der Band am Ende auch kunsthistorisch brisanten Stoff - doch nur für den, der wirklich tiefer schürfen will. Für alle anderen, die ihn fachgerecht zu wuchten verstehen, eröffnet sich ein Michelangelo-Panorama, welches seinesgleichen sucht.

Frank Zöllner, Christof Thoenes, Thomas Pöpper: Michelangelo. Taschen-Verlag, Köln 2007. 768 Seiten, 150 Euro, erscheint am 19. November.

© SZ vom 15.11.2007/ihe - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: