Lesung:Die andere Wahrheit

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Daniel Speck war Drehbuchautor, bevor er Romane schrieb. (Foto: Stephan Rumpf)

Daniel Speck hinterfragt im Roman "Piccola Sicilia" Kriegs-Narrative

Von Martina Scherf, München

Tunis, 1942. Der junge Wehrmachtssoldat Moritz Reincke steht vor einer schicksalhaften Entscheidung. Lässt er den Juden, der noch vor Kurzem im Grand Hotel so schön Klavier gespielt hat, laufen? Oder erfüllt er seinen Auftrag und liefert ihn am nächsten Tag der SS aus? Sein Handeln in dieser einsamen Nacht wird nicht nur über Leben oder Tod des jungen Gefangenen entscheiden, es wird auch sein eigenes Leben für immer verändern.

Berlin, gut sechzig Jahre später. Eine deutsche Archäologin erhält eine Mail von einem früheren Studienfreund. Er habe ein Flugzeugteil mit einem Hakenkreuz vor der Küste Siziliens entdeckt. Darin eine Kamera mit den Initialen "M.R.". Könnte es sich dabei um die JU 52 handeln, mit der ihr Großvater angeblich über dem Mittelmeer abgestürzt ist?, fragt der Freund. Dein Großvater war doch Kriegsberichterstatter, oder?

Nina, die Enkelin, fliegt nach Sizilien, und mit ihren Fragen über das mysteriöse Verschwinden des Großvaters im Zweiten Weltkrieg beginnt Daniel Specks Roman "Piccola Sicilia", der geschickt auf zwei Erzählebenen Gegenwart und Vergangenheit verschränkt. Das Buch nimmt unter den zahlreichen Kriegs- und Generationenromanen dieses Jahres einen besonderen Platz ein. Nicht nur durch seinen Schauplatz Nordafrika und den Fokus auf das Treiben der Wehrmacht, die dort verheerende Spuren hinterließ. Sondern auch, weil Speck von einem Tunis vor dem Krieg erzählt, in dem Juden, Christen und Muslime, Araber, Italiener und Franzosen friedlich zusammen lebten. Einigen dieser Menschen gibt der Münchner Autor Stimme und Gestalt.

Piccola Sicilia war das alte Hafenviertel von Tunis. Speck beschreibt es als kulturellen Schmelztiegel. Es gab eine Kirche, eine Moschee und 14 Synagogen. "Frauen gingen verschleiert oder im Kleid aus Paris, Männer im Burnus oder im italienischen Anzug, der eine trug Kippa, der andere ein Kreuz um den Hals, und der nächste spielte mit Gebetsperlen in der Hand. Der eine aß koscher, der andere halal, der nächste trank Wein." Das geht bis zu dem Tag, an dem die Deutschen einmarschieren. "Am 8. November 1942 erreichte der Krieg der Europäer Yasminas kleines Land."

Die Jüdin Yasmina heiratet später den deutschen Soldaten aus Berlin, der zuvor ihren Bruder gerettet hat. Und das ist nur eine der überraschenden Wendungen in diesem Roman. Der Deutsche ist fahnenflüchtig und selbst bedroht. Die jüdische Familie versteckt ihn monatelang in ihrem Haus. Als Wehrmacht und SS auch in Tunis Juden verfolgen, wird die jüdische Familie wiederum von arabischen Freunden gerettet. Das alles könnte konstruiert wirken - es basiert aber auf wahren Begebenheiten. "Richard Abel hieß der Soldat, der in der Wüste fünf junge jüdische Männer mit Wasser, einer Landkarte und seiner Pistole ausstattete und sie laufen ließ", erzählt Speck beim Treffen in einem Schwabinger Café. Abel wird in der Gedenkstätte Yad Vashem als "Gerechter unter den Völkern" geehrt. Indem Speck jenen ehrenhaften Deutschen - Ninas vermeintlich verschollenen Großvater - zum Kameramann macht, gelingt es ihm auf eindringliche Weise, die Propaganda der Kriegsbilder mit Szenen aus dem Alltag der Menschen gegenzuschneiden. Da sind die Bilder für die Wochenschau, die Generalfeldmarschall Rommel, der umstrittene "Wüstenfuchs", drehen ließ: Palmen, Kamele und Soldaten, die Spiegeleier auf Panzerhauben braten. Solche Bilder haben überlebt, sie prägen Legenden, die von Generation zu Generation weitergegeben werden, während die Geschichten der Opfer kaum je erzählt sind.

Im Mai 1943 kapitulierten die letzten deutschen und italienischen Streitkräfte des Afrikakorps vor der Übermacht der Alliierten. "Die Zahl der Toten, Verletzten und Gefangenen lag höher als in Stalingrad, weshalb unter Deutschen von ,Tunisgrad' die Rede war", sagt Speck. Und während jedes Schulkind noch heute lernt, was der D-Day in der Normandie war, ist kaum bekannt, dass die größte Invasion der Alliierten über Sizilien lief, nicht über die Normandie. Tunis war schon immer ein Brückenkopf zwischen Europa und Afrika. Diese historischen Fakten bilden den Hintergrund des Romans. Und jede seiner Figuren muss ihren Platz in einer Welt voller Brüche immer wieder neu definieren.

Daniel Speck kommt vom Film. Er war Drehbuchautor ("Maria, ihm schmeckt's nicht"), bevor er mit "Bella Germania" vor zwei Jahren seinen ersten Roman vorlegte, eine Familiengeschichte italienischer Gastarbeiter in München. Es wurde ein Bestseller und fürs ZDF verfilmt. "Piccola Sicilia" ist um einiges komplexer angelegt, doch auch dieses Buch lebt von starken Bildern: das Flugzeugwrack, das sich im Herbststurm vor Sizilien seiner Bergung widersetzt; das Grandhotel Majestic in Tunis als Symbol für die nach Europa orientierte Gesellschaft; das arabische Stadthaus, kühl und verschlossen, das zur Zuflucht für die jüdische Familie wird; ein Flüchtlingslager nach Kriegsende in Roms Filmstadt Cine Città, welches es wirklich gab.

Die vermeintlich bekannten Narrative zu hinterfragen, dazu fordert dieses Buch auf. Und spätestens, wenn auf Seite 352 der Name Lampedusa auftaucht, wird klar, dass es auch ein Kommentar zur Gegenwart ist. Heute ist das Mittelmeer zum Massengrab für afrikanische Flüchtlinge geworden. Doch es gab eine Zeit, als deutsche Herrenmenschen sich in umgekehrte Richtung aufmachten, Krieg, Hass und Verfolgung über die Afrikaner brachten. Vielleicht, so könnte man also schlussfolgern, fördert der Blick in die Geschichte die Toleranz.

Daniel Speck liest am Montag, 3. Dez., um 20 Uhr in der Buchhandlung Lehmkuhl, Leopoldstr. 45

© SZ vom 03.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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