Le Clézio im Gespräch:"Ich bin nicht sozial"

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Der frisch gebackene Literaturnobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clézio gibt sich im Gespräch bescheiden und empfiehlt zwei andere für die höchste literarische Ehre.

Nina Lekander

Die Kollegin vom Fernsehen stellt einen Globus vor Jean-Marie Gustave Le Clézio auf. Er soll ihn drehen und auf die Stellen zeigen, wo er schon gewesen ist. Wie es sich zeigt, ist das überall. Er scheint alles gemacht und alles gesehen zu haben.

Literat und Weltenbummler: Jean-Marie Gustave Le Clézio. (Foto: Foto: afp)

"Einmal haben meine Frau und ich Trolle im Wald gesehen", sagt er der Kollegin. "Pardon my French, aber habe ich richtig gehört?", frage ich ihn später. "Of course", sagt er. "Dios mío", sage ich, weil er natürlich auch Spanisch spricht.

Ich werde jetzt nicht hingehen und an einem Nobelpreiskandidaten zweifeln, der so cool ist, so nett und bescheiden wie dieser, obwohl er ein Interview nach dem anderen geben muss und an den Folgen einer Grippe leidet, die er sich in China zugezogen hat.

"China?" - "Das war auf dem Heimweg von Seoul", erklärt er. "Seoul?" - "Ich habe dort ein paar Monate an einer Universität für Frauen unterrichtet?" - "Für Frauen?" Und so geht das Gespräch weiter. Abwechselnd bin ich überrascht und beeindruckt.

"Ich interessiere mich für alle Menschen"

Ich wusste, dass der große Schriftsteller, neben vielen anderen Ländern und Kulturen, auch an Korea interessiert ist. Doch hatte ich geglaubt, dass er in aller Ruhe an seinem "offiziellen Wohnsitz" in New Mexico sitze und an seinem nächsten Buch schreibe.

An der Ewha-Frauen-Universität in Südkorea unterrichtet er, "zum Teil" westliche Kultur im Allgemeinen - "Ich habe mehrere Filme von Bergman gezeigt" - , "zum Teil" westliche Literatur, verfasst von Frauen, "von Margarete von Navarra bis heute". Zwischendurch lernt er "etwas Koreanisch".

"Oh, Sie interessieren sich also für weibliche, sogar feministische Literatur?" - "Ich interessiere mich für alle Menschen, die sich ausdrücken wollen, und für deren Gefühle. Die Frauen waren ja lange daran gehindert." - "Das Ausdrucksbedürfnis, etwas in sich zu haben, das hinaus muss, ist die einzige Rechtfertigung für Literatur. Ansonsten ist der Film ein besseres Erzählmedium, und die Musik ist ergreifender, und die Malerei ist deutlicher."

Über das autobiographische Buch "Der Afrikaner" heißt es oft, dass es Le Clézios erste Begegnung mit dem Vater war, einem Arzt im heutigen Nigeria, im Jahr 1948 (der Krieg hatte die Familie zerstreut), die den Anfang seiner schriftstellerischen Tätigkeit bildete.

Lesen Sie auf Seite 2, wen Le Clézio für den Nobelpreis empfohlen hätte.

"Ja, aber zuvor hatte ich schon mit einem Schreinerstift auf Lebensmittelkarten geschrieben, weil es in Frankreich an Papier und Stiften fehlte. Unter anderem darüber, wie eine Familie zum Vater in Afrika fährt, aber das Schiff geht unter, bevor sie ankommen." - "Ich bin unter Frauen aufgewachsen, und ich fürchtete mich davor, meinen Vater zu treffen, es war unangenehm, einen Mann in der Familie zu haben."

"Und meine Mutter war eine gute Erzählerin. Ständig erfand sie irgendwelche Märchen, und während des Krieges hatte sie erstaunliche Sachen erlebt, Menschen getroffen, jüdische Flüchtlinge, das waren Dinge, die ich später beschreiben wollte - Begegnungen zwischen einem schwarzen Jungen und einem weißen, zwischen einem palästinensischen und einem jüdischen Kind . . ."

"Es sind die Begegnungen, die wichtig sind. Die Begegnungen verändern einen. Der Einzige, dem ich in Afrika tatsächlich begegnete, war mein Vater."

"Sind Sie sich selbst begegnet?" - "Ja, vielleicht auch das."

"Merkwürdig, dass Ihnen menschliche Begegnungen so wichtig sind. Ihre Figuren sind ja oft Outsider, fast Asoziale." - "Das stimmt. Ich bin nicht sozial."

Das glaube ich nicht. Aber vielleicht war es früher anders, zum Beispiel als Le Clézio zwischen 1967 und 1970 mit Indianern im Dschungel von Panama lebte. Ohne Familie, ohne Freunde, ohne zu schreiben - und ohne Bücher! Doch konnten die Indianer erzählen, sagt er.

Kultur des Kolonialismus

Diese Periode in Le Clézios Leben steht im Zusammenhang mit einer Krise, die "ganz unbewusst" dazu führte, dass er in den späten siebziger Jahren seinen Stil änderte. Seine Bücher wurden weniger hermetisch und experimentell, erreichten ein größeres Publikum. Er selbst sagt, dass er die Literatur brauchte, um zu "überleben" und "sich zu verändern".

"Haben Sie sich je politisch gegen Rassismus und Kolonialismus engagiert?" - "Das steht mir nicht zu. Denn ich gehöre zur Kultur des Kolonialismus, auch wenn mein Vater und meine Vorväter keine schlechten Menschen waren, und ich verhalte mich zu dieser kolonialen Kultur, wenn ich schreibe."

"Haben Sie ein Heimatland?" - "Nein, Frankreich vielleicht, Afrika, England. Und dann Mexiko, wo ich gewohnt habe, und New Mexico in den Vereinigten Staaten, selbstverständlich. Meine Töchter haben mich gefragt, warum wir kein Zuhause haben, aber jetzt studieren beide in Paris, da ist doch die stärkste Verbindung. Doch ich bin in den Büchern zu Hause, im Schreiben und in der französischen Sprache."

"Was halten Sie vom Nobelpreis?" - "Das ist ein bedeutender, international anerkannter Preis. Aber es gibt auch andere, die ihn bekommen sollten, Edouard Glissant aus Martinique zum Beispiel. Und Hyder Qurratulain hätte ihn bekommen sollen."

"Wer?" - "Eine Inderin, die in Urdu schrieb, aber ,River of Fires' selbst ins Englische übersetzte. Lesen Sie dieses Buch!"

Der Globus dreht sich, aber es könnten auch die Zeiten sein.

Aus dem Schwedischen von Thomas Steinfeld

© SZ vom 10.10.2008/jb - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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