Kurzkritik:Abgründig

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Musikalische Reise mit "Sea + Air" im Cord Club

Von Stefanie Schneider, München

Noch bevor es beginnt, wird das Konzert zur Beschwörung. Sea+Air betreten die Bühne, zünden Kerzen an, verbeugen sich voreinander, schließen die Augen und legen los. Die ersten Töne des Duos mystifizieren den Cord Club schlagartig, der sich allmählich füllt. Es ist heiß hier, die ersten Fächer werden gezückt und wippen im einsetzenden Takt beinahe meditativ mit.

"Schön, dass Ihr da seid. Wir sind Sea+Air aus Europa", flüstert Sänger Daniel Benjamin nach dem ersten Stück ins Mikro. Er ist Schwabe, seine Bandpartnerin und Ehefrau Eleni Zafiriadou stammt aus Griechenland. Mit dem ersten Album tourten die beiden drei Jahre durch Europa, spielten 600 Konzerte in 23 Ländern. Jetzt sind sie mit "Evropi", ihrer zweiten Platte, auf Durchreise. Dass die anders klingt, wird nach den ersten Minuten deutlich. Statt zuckersüßem Akustik-Pop wie in "The Heart of the Rainbow" oder "Do Animals Cry", Songs ihrer letzten Platte, klingen sie nun dunkler und abgründiger. Das ist kein Zufall: "Evropi" behandelt die Familiengeschichte der Sängerin Zafiriadous, von der Vertreibung der Urgroßmutter 1922 aus Anatolien über die Flucht nach Griechenland und Deutschland. Es geht hier um Heimatlosigkeit und das Gefühl der Sehnsucht nach etwas, was für immer abhanden gekommen zu sein scheint.

Wenn die beiden dann in ihre perfekt aufeinander abgestimmten Zwiegesänge eintauchen, die zugleich verstörend und bewegend sind, stellt sich diese Melancholie tatsächlich ein. Dazu tragen die traditionellen Rembetiko-Einflüsse, der volkstanztypische Siebenachtel-Takt und die Instrumente von Cembalo bis Bouzouki bei. Auch an diesem Abend beweisen Sea+Air, dass sie keine dieser Halbplayback-Band sind. Zafiriadou und Benjamin spielen jeweils bis zu fünf Instrumente gleichzeitig auf der Bühne. Das kann schnell anstrengend und affektiert wirken, ist es hier aber nicht. Beinahe fließend gehen sie von Instrument zu Instrument über, dabei haben sie Mut zum Pathos, ohne dass es peinlich würde.

Komplexe Arrangements, ein tiefgängiger Mix und wunderschön skurriler Gesang - Sea+Air gehen auf musikalische Reise, die das Ohr herausfordert. Hört man genau hin, kann man den beiden auf ihrem Weg folgen. Kann sie durch ein Europa begleiten, in dem es keine Grenzen mehr zu geben scheint. Damit beschwören sie eine Utopie, eine, an die zu glauben, gerade in diesen Zeiten, so essenziell wie notwendig sein kann.

© SZ vom 31.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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