Kunst des Unterbewussten:Auf Trip in die Tiefen der Seele

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Der Künstler Ugo Dossi hat in Murnau ein neues Atelier gefunden. In einer Ausstellung präsentiert er seine Weltmodelle

Von Sabine Reithmaier, Murnau

Was ist der größte Vorteil des Landlebens? Ugo Dossi denkt nicht lange nach: "Das sind die Lagerflächen - darum beneidet mich jeder Kollege." Ganz schön prosaisch, diese Antwort. Aber diese Nüchternheit passt zu dem 73-jährigen Künstler, der seit Jahrzehnten versucht, Seelenzeichen aus dem Unsichtbaren ins Sichtbare zu schmuggeln und in wissenschaftlich anmutenden Versuchsanordnungen nach einer allgemeingültigen Bildsprache sucht. Auf den ersten Blick wirkt er nicht wie ein Schamane, Magier oder Therapeut - allesamt Zuschreibungen, die in den Texten über ihn regelmäßig auftauchen.

2013 ist Dossi nach Neu Egling am Riegsee (bei Murnau) gezogen. 17 Jahre hatte er sein Atelier im Kunstpark Ost und später in der Kultfabrik. Als der Abriss anstand, zog er aus. Ohne jeden Groll, "ich wollte nichts verzögern". Eigentlich hatte er auch geplant, in München zu bleiben. Aber dort ein Atelier finden? - Dossi schüttelt den Kopf: "Das geht absolut nicht." Ein Murnauer Freund wusste von einer Möbelausstellungshalle, die seit acht Jahren leer stand. "Ich hatte kein Geld, um die Räume zu renovieren." Zum Glück entschied sich die ehemalige Fotogaleristin und Kunstsammlerin Petra Benteler, das Anwesen zu kaufen und eine Stiftung zu gründen.

2015 hat die Stiftung ihre Arbeit aufgenommen. Ziel ist es, den Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft zu fördern, eine Aufgabe, die maßgeschneidert für Dossi ist. Die erste Ausstellung "Das Blaue Land 2015" stellte aktuelle künstlerische Positionen aus der Region vor, in der zweiten thematisierte die Stiftung die "Aneignung von Natur" am Beispiel des Malers Karl Walther (1905- 1981) und seiner Enkelin, der Falknerin und Künstlerin Hara Walther. Jetzt präsentiert Dossi seine Weltmodelle.

Vier Werkzyklen hat Kurator Wenzel Jacob, ehemaliger Intendant der Bundeskunsthalle Bonn und künstlerischer Berater der Stiftung, auf die drei großzügigen Räume verteilt. Das älteste Werk in der Schau ist die "Turbulenz". Schon 1966 hat Ugo Dossi das Denken als Wirbel dargestellt. "Das Thema hat mich immer bewegt", sagt er. Warum? Er überlegt. Vielleicht weil es bei seiner Geburt schon so unruhig war. Dossi ist mitten im Krieg geboren, 1943 im Luftschutzkeller des Alten Simpl in der Türkenstraße, während eines Luftangriffs. Turbulenzen von der ersten Sekunde an - "das hat mich geprägt".

Dossi seufzt und nimmt einen Schluck Kaffee. "Als wir an der Ausstellung arbeiteten, haben wir festgestellt, dass sie 50 Jahre umfasst." Weshalb er sehr viel erzählen könnte über Menschen, mit denen er zusammengearbeitet hat. Über Eat-Art-Künstler Daniel Spoerri etwa, der wie Dossi eine Weile sein Atelier am Jakobsplatz in München hatte, allerdings ein Stockwerk tiefer, oder Helmut Dietl, der sein Banknachbar im Gymnasium war und sich später von ihm seine Gedichte illustrieren ließ. Alles ganz schön lang her.

1962 hatte sich Dossi, der Sohn eines Südtirolers, an der Münchner Kunstakademie ein geschrieben. Erst malte er ganz normal mit Farben, fand das aber bald langweilig ganz im Gegensatz zu den Bildern auf LSD. Er entdeckte ungeahnte Welten, ein Universum, das, so empfand er es, in einer ununterbrochenen Bewegung war. Anfangs malte er seine Visionen herkömmlich: bunte psychedelische Farbstrudel. Aber das gab die Erlebnisse nur ungenügend wieder, Dossi sann über neue Formen nach. "Nicht ich, sondern ,es' dachte darüber nach." Kunst als Vehikel für die Entdeckungsreisen in die Tiefen der Seele.

Ugo Dossi, hier in seinem ehemaligen Atelier in der Kultfabrik. (Foto: Stephan Rumpf)

Auf der Suche nach den neuen, glaubwürdigen Inhalten und Formen entdeckte er das Tarot, fragte sich, warum das Alphabet mit A anfängt, analysierte Zahlenverhältnisse, ließ sich von den Lehren des Wiener Sexualwissenschaftlers Wilhelm Reich beeinflussen und kam für sich zu dem Schluss, dass es im kollektiven Unterbewussten Gemeinsamkeiten geben muss. Um seine Hypothese zu überprüfen, verteilte er in den Siebzigerjahren an Freunde Zettel mit einfachen Begriffen und Bildern, bat sie, ihre Assoziationen hinzufügen, schriftlich oder gezeichnet.

Tatsächlich fanden sich Begriffe, die immer wieder auftauchten, Blut etwa oder Salz. Dossis assoziative Felder umfassten bald 2000 Begriffe. In Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern des Münchner Max-Planck-Instituts für extraterrestrische Physik setzte er die Verbindungslinien seines Netzwerks in ein Raummodell um: Es entstanden zwei einander endlos durchdringende Wirbel, ein Prozess ohne Anfang, ohne Ende. "Das Bild ist aber nur ein Werkzeug dafür, was in mir entsteht", sagt Dossi. Mit den Computergrafiken dieser Doppelwirbel (Vortex) war er 1976 zum ersten Mal auf der Documenta vertreten, während er 1987 auf der Documenta 8 einen Dornbusch brennen ließ - die Flammen kamen aus einem Filmprojektor. Dazwischen blitzten für Sekundenbruchteile Zeichnungen auf.

In einem weiteren Raum hängen die großen Arkana des Tarot. Gedruckt auf Akrylglas entstehen durch Schatten zweite Ebenen, entwickelt sich, auch das ein Dauerthema Dossis, eine faszinierende Welt hinter den Erscheinungen. Seine ersten Tarot-Karten schuf er bereits 1967/68. Er hatte sie selbst nahezu vergessen, entdeckte sie erst wieder, als er Arbeiten für eine retrospektive Ausstellung zusammenstellte. "Das sieht man und denkt sich, das hier müsste man anders machen und das da, und dann ist es, wie wenn man eine Altbauwohnung saniert. Wenn du anfängst, hört es nicht mehr auf." Also überarbeitete er bis 2011 alle Karten. Und schrieb ein Buch dazu, das aber noch nicht verlegt ist.

Seine Arbeiten seien, sagt Dossi, ein "giftiges Thema" für viele. Gerade Leute, die aus der Kunst kämen, hätten eine tiefe Angst davor, aufs Glatteis geführt zu werden. Dossi amüsiert das. "Es ist Glatteis, aber nur auf Glatteis kann man Schlittschuhfahren. Und Schlittschuhfahren ist etwas Schönes."

In einem kleineren Raum hängen die automatischen Zeichnungen, "meine große Liebe" (Dossi). Da steht auch der von ihm erfundene "Sensograph", eine auf Rollen gelagerte Akrylglasscheibe mit Zeichenstift. Die Fingerspitzen beider Hände werden an den Rand gelegt, man zeichnet mit den Armen und umgeht die Feinmotorik der Finger, die - davon ist Dossi überzeugt - vom Kindergarten an konditioniert ist. Gezeichnet wird während der Workshops in Trance, auf dem Papier bleiben zarte Gebilde als Ausdruck von Gefühlen und Erinnerungen zurück. Manchmal sind die Zeichnungen verblüffend hellsichtig. So lassen sich "Zwei Türme, zwei Flugzeuge" aus dem Jahr 1985 im Nachhinein als Orakel interpretieren. Berühmt geworden ist auch das sich küssende Männerpaar, das er 1986 anlässlich der Biennale von Venedig in einen Baum der Giardini projizierte.

Eine Treppe führt hinauf in die Privaträume. Gleich neben der Tür hängt "Die relative Freiheit". Ein fliegender Mensch, von der Schwerkraft befreit, aber doch nicht in der Lage, sich aus der vorgeschriebenen Bahn zu lösen. In München ist es ziemlich ruhig geworden um Dossi, der ansonsten immer noch international unterwegs ist. "München ist der Platz, wo ich das Geld ausgebe, das ich woanders verdient habe", spöttelt er. Hat er das Gefühl, zu Hause unterschätzt zu werden? "Wertschätzung war nie mein Ziel. Mir geht es darum, weiter im Strudel zu treiben und ihn intensiv zu erleben." Immer auf der Suche nach neuen Erfahrungen aus den Tiefen des Unterbewusstseins.

Ugo Dossi: Sinnlich + Übersinnlich = Weltmodelle, bis 19. März, Kunststiftung Petra Benteler, Neu Egling 3, Murnau, Besuch nach Vereinbarung, Tel. 08841/ 405 49 95

© SZ vom 27.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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