Als der futuristische Lyriker Tomasso Marinetti 1930, unter Mussolini, das Ende "einer absurden italienischen Religion" forderte, meinte er nicht etwa den zäh sich haltenden Katholizismus. Nein, was der Anhänger der Faschisten als Quelle von "Schwäche, Pessimismus, Inaktivität, Nostalgie und Neutralismus" geißelte, das war die Nudel. Spaghetti, Cannelloni oder Farfalle zersetzen den Zusammenhalt des Volkes?
Ein Gedanke, der zunächst wohl nur mit der neurotischen Verwirrung zu erklären sind, wie sie typisch ist für faschistische Ideologen; der aber zugleich wohl auch aus dem Umstand geboren ist, dass das Objekt der Tirade, zumal in Italien, mehr ist als nur irgendein Nahrungsmittel. Zwar keine Religion oder Gesellschaftsbewegung, aber doch ein Kulturgut von beeindruckendem Durchsetzungsvermögen.
Deshalb kann man wie der Journalist Christoph Neidhart problemlos ein ganzes Buch über die Nudel schreiben, über das uralte Weizenprodukt und seine Geschichte. Das Buch hat einen dämlichen Untertitel, ist aber sonst recht gelungen; es langweilt nicht wie manche andere Bücher, die dem Essen huldigen. Neidhart schickt den Leser quer über den Globus, jagt ihn durch Deutschland, Russland, Usbekistan, Vietnam, China, Japan, die USA - immer der Nudel nach. Er spürt ihren Ursprung im Zweistromland auf, schildert ihre Verbreitung über die Seidenstraße in die östlichen Regionen Asiens und ihren Triumphzug durch Europa, wo sie dank dem persischen Fernhandel im Mittelalter nach Andalusien und Sizilien eingeschleust wird.
Die Zwischenstopps, die Neidhart einlegt, sind Länderkunde aus der Nudelperspektive. Neidhart besucht die Sandunow-Banja in Moskau, einen Badetempel aus der Zarenzeit, wo sich schwitzende Männer im Ruheraum in kindlicher Selbstvergessenheit auf Berge von Pelmeni stürzen, Teigtaschen mit Fleischfüllung. Kein Problem, dass dabei mancher Knochensplitter auf den Zähnen knirscht: Den Russen sei die Menge eben manchmal wichtiger als die Verfeinerung.
Pasta für die Masse
Der Autor stattet auch der koreanischen Halbinsel eine Visite ab, wo an fast jeder Ecke kalte Bandweizennudeln namens Naengmyeon zu haben sind - und schwärmt über die dort vorherrschende Symbolmacht des Lebensmittels. So feiert er die Liebe zur Nudel als eines der letzten Bindeglieder zwischen dem südlichen und nördlichen Teil des Landes. Was in einer Region, wo "Nudeln essen" ein Hochzeitsritual ist und daher auch als Synonym für Heiraten verstanden wird, wohl gar nicht mal so abwegig ist.
Die moderne Nudelkultur, so lernen wir, geht vom barocken Neapel des 17. Jahrhunderts aus. Als in der überbevölkerten Stadt die Fleischversorgung zusammenbricht, professionalisieren die verarmten Lazzaroni, die Straßenjungs der städtischen Unterschicht, die Pasta-Produktion mit Knetmaschinen und Nudelpressen. In Garküchen entsteht mit den Makkaroni das erste urbane Fast Food der westlichen Hemisphäre. Goethe wird später auf seiner Italienreise notieren, die Nudelstände hätten "einen unglaublichen Abgang, und viele tausend Menschen tragen ihr Mittag- und Abendessen von da auf einem Stückchen Papier davon".
Im 20. Jahrhundert konnten die Faschisten dann noch so sehr gegen die angeblich demoralisierende Volkskost hetzen: Der Weiterverbreitung der Pastamanie tat das keinen Abbruch. Als "Operette der Küche", für jeden genießbar, unabhängig von kultureller oder kulinarischer Vorbildung, ist die Nudel heute das prototypische Lebensmittel der Globalisierung.
CHRISTOPH NEIDHART: Die Nudel. Eine Kulturgeschichte mit Biss. Illustriert von Günter Mattei. Deuticke Verlag, Wien 2007. 319 Seiten, 24,90 Euro.