Kritik:Erdbeben im Blümchenbeet

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Ein durchgeknallter Mix ist Nessi Tausendschöns neues Programm "Knietief im Paradies". (Foto: Harald Hoffman)

Nessie Tausendschön optimiert in der Lach- und Schießgesellschaft das Glück

Von Thomas Becker, München

Wer als Kabarettistin Annette Marx heißt, darf sich ein Pseudonym gönnen. Tausendschön klingt toll und zeugt von gesundem Selbstbewusstsein. Dass sich dahinter das brave Gänseblümchen verbirgt? Wurscht. Immerhin werden dem Er-liebt-mich-er-liebt-mich-nicht-Pflänzchen sagenhafte Kräfte nachgesagt: Wer die ersten drei Gänseblümchen im Frühjahr isst, bleibt von Zahnschmerzen, Augenleiden und Fieber verschont, sagt der Aberglaube. Fest steht jedenfalls: Wer sich in Nessi Tausendschöns Programm "Knietief im Paradies" setzt, von dem fallen flott auch alle weiteren Sorgen und Nöte ab.

Seit 1989 beglückt die gelernte Zierpflanzengärtnerin mit ihrem "skurril-poetischen Musiktheaterkabarettvarieté mit akrobatischen Einlagen" (O-Ton Annette Marx). In ihrem elften Solo-Programm bewegt sie sich zwischen "Knietief in der Scheiße" und "Mitten im Paradies", also mittendrin im Leben. Es geht um Konsum (zu viel), Achtsamkeit (zu wenig) und Posthum-Shopping (macht man ja dann doch nicht), um Entschleunigung (Twitter-Tweets per Postkutsche, Gobelins statt Instagram) und um das optimale Glück, da herkömmliche Happiness in der durchoptimierten Gesellschaft nicht mehr reicht. Kurz: Der Abend ist ein Plädoyer für mehr Zufriedenheit.

All das transportiert Tausendschön per Gesang, mit dieser Stimme, die wunderbar säuseln, aber auch herrlich berserkern kann. Schon die erste Nummer folgt dem alten Hollywood-Prinzip: Mit einem Erdbeben beginnen und dann langsam steigern. Vogelwildes Freejazz-Gescatte, das mit einem Schlag den Besucher der Lach- und Schießgesellschaft die Smartphone-Welt vergessen lässt. Später beim titelgebenden Song geht es Richtung Pop. Zwölf Songs hat sie im Studio aufgenommen, mit Unterstützung des kanadischen Musikers und Komikers William Mackenzie sowie mit Gitarren, Banjos, Theremin und singender Säge. Ein schön durchgeknallter Mix, der in einem russischen Schlaflied gipfelt, nach dem garantiert alle wieder wach sind.

Und das Paradies? Wie sieht's da jetzt aus? So genau verrät Frau Marx das nicht, nur so viel: Im Paradies gibt's Kabarett. Wie tausendschön!

© SZ vom 02.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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